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Kein Lob der Ignoranz

Fünf Jahre nach der Wende stellen sich auch die Tschechen eine Frage: Schämen wir uns für den neuen Staat, oder sind wir stolz auf ihn?  ■ Von Vladimir Rajdl

Ist es schwierig oder leicht, die Frage zu beantworten, was sich in den letzten fünf Jahren in der Tschechischen Republik geändert hat? Nun, wichtig ist hier wohl, welche Bedeutung wir dem Fragesteller zumessen. Denn ansonsten könnte man ganz spontan und unhöflich entgegnen: Was sich bei uns geändert hat, kann jeder auf den ersten Blick erkennen. Und auch die Tatsache, daß es eine Wende zum Besseren war, liegt auf der Hand. In solchen Äußerungen kommt natürlich ein gewisses Maß an Loyalität gegenüber dem neuen Staat zum Ausdruck.

Es ist aber auch eine andere Antwort möglich. Sie läßt sich von dem Wunsch leiten, besonders geistreich zu wirken: Man beurteilt den eigenen Staat aus der Position des ebenso professionellen wie nichtssagenden Zynismus eines Heiner Müller. In einer Zeit, in der den Nationalstaaten rhetorisch die Totenglocke geläutet wird, ist es von Vorteil, wenn man zum eigenen Staat auf Distanz geht. Doch stellt dies einen Wert dar?

Daher will ich versuchen, die Beziehung zu meinem Mutterland im Jahre fünf nach dem Ende des Bolschewismus anhand einiger Beispiele zu beleuchten. Das erste von ihnen befaßt sich mit dem Dilemma, wie man das, was damals passiert ist, bezeichnen soll. Die erste Zeit nach dem Umsturz ließ es nicht zu, dieses umjubelte Ereignis mit einem so geruchlosen Begriff wie „Wende“ zu umschreiben. Gegen die Formulierung „samtene Revolution“ sträubt sich jedoch die tschechische Abneigung gegen jedwedes Pathos. Wenn schon, dann müßte man von „Großer samtener Oktoberrevolution“ sprechen, die sich traditionsgemäß im November abspielte. Doch auch dieser Witz ist in der mittlerweile technokratischen tschechischen Gesellschaft kaum mehr zu hören. Statt dessen bezeichnet man die Ereignisse des Jahres 1989 heute herablassend als Happening.

Schuld an dieser sprachlichen Wende ist nicht nur der gewonnene zeitliche Abstand. Und auch die Frage, ob die Revolution gut oder schlecht war, spielt keine große Rolle. Möglich wäre jedoch, daß sich schöne Augenblicke nur unmittelbar und dann erst wieder mehrere Generationen später auskosten lassen. Ein Beleg hierfür ist das Verhältnis der Tschechen zu ihrer Ersten Republik, die von 1918 bis 1938 bestand. Denn die Idylle ihrer „wahrhaften Demokratie“ beschwören auch jene, die sie nur aus alten Filmen kennen.

Eine weitere Antwort auf die Frage nach der Distanz liefert eine Statistik, die zeigt, wie viele Tschechen heute auf ihren Staat stolz sind und wie viele sich für ihn schämen. Ein Viertel empfindet Stolz, ein Viertel Scham, die Hälfte weiß nicht, was sie fühlt. Ich glaube, daß dieses Beispiel besonders hinsichtlich der Höhe der prozentualen Anteile interessant ist. Denn wenn auch unser Premier nicht müde wird, darauf hinzuweisen, daß der Reformprozeß beendet ist, so scheint diese Vollendung doch für 50 Prozent der Bevölkerung nicht auszureichen, um eine Position zu dem neuen Staat zu beziehen. Vielleicht, weil sie der Ansicht sind, daß diese Reformen nicht abgeschlossen sind. Vielleicht aber auch, weil sie nicht wissen, nach welchen Kriterien sie den Staat beurteilen sollen.

Andererseits macht die Statistik gerade wegen der hohen Zahl der Unentschiedenen Hoffnung. Mehrheitsverhältnisse, sei es zugunsten der Stolzen oder der Beschämten, würden für die Zukunft kaum ein gutes Klima schaffen. Zu viel Stolz würde unweigerlich zu Arroganz verkommen, das andere Extrem zu Weinerlichkeit und Bitterkeit verführen.

Die Tschechische Republik kann so weiterhin auf die Möglichkeit bauen, langsam, aber beharrlich das Vertrauensverhältnis zwischen dem Staat und den Bürgern zu verbessern. Diese Tatsache belegt auch mein Gespräch mit einem höheren Mitarbeiter eines Prager Ministeriums. Auf meine Frage, ob es ihn nicht beunruhige, daß einige tschechische Neureiche, ohne mit der Wimper zu zucken, Häuser und Wohnungen an russische Gesellschaften, die der Mafia nahestehen, vermieten und so das weitverbreitete Gefühl der Bedrohung noch verstärken, gab er die Antwort, daß er für die Vermieter Verständnis habe. Der Staat dürfe in private Entscheidungen nicht eingreifen. Die Zeiten solcher Einschränkung seien mit dem Jahr 1989 zu Ende gegangen. Früher hätte er ein besonderes Verhältnis zum Staat gehabt, denn dessen Allmacht und seine Ohnmacht hätten ihn tief deprimiert. Heute jedoch habe er mit dem Staat keine Rechnungen zu begleichen, müsse aber auch keine besonderen Opfer erbringen. Und so hat der Staat seine allgegenwärtige Bedeutung verloren. Selbst als Intellektueller kann man für ihn arbeiten. Vielleicht beschützt ja gerade diese Gleichgültigkeit die Tschechische Republik vor Entgleisungen.

Daß ich hier jedoch nicht die Ignoranz loben will, soll ein Erlebnis in Vilnius belegen. In der litauischen Hauptstadt hielt ich mich in der Zeit zwischen dem Mauerfall und dem Umbruch in Prag auf. Damals lag mir noch daran, mit einer ostdeutschen Stipendiatin einen „grundsätzlichen“ Streit über die Ansichten von Franz Josef Strauß auszufechten. In der Moskauer Zeitschrift Voprossy filozofii wurde damals ein – altes – Interview mit dem bayrischen Ministerpräsidenten veröffentlicht, in dem dieser unverblümt darlegt, daß man auch die extreme Rechte mit allen Mitteln für die Demokratie gewinnen und sie daher in die CSU einbinden müsse. Diese deutlichen Worte klangen in unseren Prager Ohren damals wie das fröhliche Plätschern eines kristallreinen Baches. Schließlich waren wir eher die Verrenkungen der Kommunisten gewöhnt.

Als ich diese Meinung jedoch gegenüber der reformfreundlichen ostdeutschen Kollegin äußerte, bezeichnete diese mich als Faschisten. Was meine Lust an der Verteidigung der Positionen der CSU nur noch bestärkte. Ähnliche „grundsätzliche“ Diskussionen – zum Beispiel über die Politik von Margaret Thatcher – führten wir mit unseren westlichen Freunden um so unversöhnlicher, je näher wir ihnen sowohl kulturell als auch altersmäßig standen.

Heute sind es mir beide Politiker nicht mehr wert, freiwillig einen mir nahestehenden Menschen vor den Kopf zu stoßen. Die Bedeutung dieser politischen Diskussionen verschwindet, weil auch die Politik und die strenge Trennung in „links“ und „rechts“ unbedeutender wird. Heute halten wir es für erwünscht, daß eine neue politische Gruppierung der „All Stars“ quer durch alle Parteien entsteht. Wir haben aber auch gelernt, daß nicht wir für die Politik da sind, sondern die Politik für uns da ist.

Der Weg in diese Normalität kostete viele Illusionen, einschließlich solcher, die wir vielleicht besser bewahrt hätten. Daher halte ich es für notwendig, daß die tschechische Öffentlichkeit unsere „Achtundsechziger“ nicht vergißt. Nicht nur, daß manche von ihnen in den Jahren der sogenannten Normalisierung den heute Dreißigjährigen eine gewisse Orientierung vermittelt haben; diese 68er sind in der Tat das wirkliche Bindeglied zu der so viel beschworenen Ersten Republik. Denn, wie der Schriftsteller Ludvik Vaculik sagt, es handelt sich um sechzigjährige 68er. Jüngere Generationen können mit ihnen streiten, dürfen aber keinesfalls auf ihre Erfahrungen verzichten. Andererseits führen aber auch die schmerzlichen Opfer der Sowjet-Besatzung dazu, daß wir uns für den neuen „Nachwendestaat“ oft stärker als nötig engagieren. Diese übermäßige Politisierung kann Politik behindern. Es ist nicht auszuschließen, daß erst die Generation der heutigen Studenten fähig sein wird, diese Behinderung zu beenden. Und dann wird Tschechien, um mit Václav Havel zu sprechen, endlich kein „postkommunistischer“, sondern ein „normaler“ europäischer Staat sein.

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