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Die Dialektik der Illusionen

Fünf Jahre nach der Wende fragen sich die Ungarn erneut: Wollen wir nationale Tollkirschen oder billigen Schweinebraten?  ■ Von István Eörsi

Die Geschichte Ungarns von 1956 bis heute ist eine Geschichte der verlorenen Illusionen. Zwei von ihnen beflügelten die Revolution von 1956: erstens, daß sich ein besetztes kleines Land gewaltsam oder auf diplomatischem Wege von seinem supermächtigen Besatzer befreien kann, und zweitens, daß man im Besitze der nationalen Unabhängigkeit mit einer Mehrparteienregierung eine auf dem Gemeindeeigentum beruhende sozialistische Gesellschaft aufbauen kann. Beide wurden am 4. November 1956 von den sowjetischen Panzern in die blutgetränkte Erde gewalzt.

Dieser entstieg ein letzter Rest von Illusionen und konzentrierte sich auf die westlichen Mächte und die UNO. Man erwartete vom Westen, daß er unsere Revolution retten sollte, selbst wenn dies einen Weltkrieg hervorrufen sollte. Der Westen würgte aber lieber an den Folgen seiner eigenen Aggression am Sueskanal und begnügte sich so mit dem Pflichtpensum an verbalen Gesten. Als wäre ihm die sowjetische Intervention gerade gelegen gekommen, denn sie versetzte den kommunistischen Bewegungen in den kapitalistischen Ländern den Todesstoß und spaltete die intellektuelle Linke.

Die geschlagenen und gedemütigten Ungarn konnten also ihre Hoffnungen allein auf das real existierende Kádár-System setzen. Nur im Gefängnis gediehen noch Illusionen über den Westen: Die im Zuchthaus von Vác unter den „Politischen“ per Handzeichen übermittelten Enten begannen meist mit „Adenauer hat ...“ oder „Die Amerikaner haben ...“; Adenauer sei in Leipzig eingezogen, die Amis hätten den Ruskis gedroht, sie mit Atombomben zu überschütten, wenn sie nicht aus Osteuropa abzögen usw. Die auf freiem Fuß befindlichen Köpfe der Intelligenz begannen zögernd, sich mit dem System zu arrangieren. Von realpolitischen Erwägungen geleitet, fielen sie der Illusion anheim, über ihre konziliante Haltung maßgeblich politischen Einfluß gewinnen zu können.

Im Herbst 1957 begingen sie, als Gefangene dieser Illusion, moralischen Selbstmord: Mehr als 200 Schriftsteller, zahlreiche Künstler und Akademiemitglieder unterschrieben ein Papier, in dem die Revolution als „weißer Terror“, die sowjetische Intervention als „humanistische Aktion“ bezeichnet wurde. Als Gegenleistung wurde ihnen vom Regime angeblich versprochen, daß einige Schriftsteller aus dem Gefängnis freigelassen würden. Am Ende kam keiner frei.

1963 verkündete János Kádár eine allgemeine Amnestie. Damit erreichte er, daß sein System international als legitim anerkannt wurde. Die Amnestie barg auch eine innenpolitische Botschaft. Vergessen wir gemeinsam das schreckliche Leid, wer nicht gegen uns ist, ist mit uns. Im Austausch für ein besseres Lebensniveau und ein bißchen mehr Freiheit verlangte Kádár lediglich, daß man ihn und sein System akzeptierte. Doch wie sollte dies möglich sein? Den Mann, der seine öffentlich gegebenen Versprechen immer wieder gebrochen hatte und mehrere hundert Menschen in den Tod schickte, darunter Imre Nagy, den Ministerpräsidenten der Revolution, die Symbolfigur des nationalen Freiheitsstrebens?

Einen solchen Menschen konnte man nicht als die einzige Lösung akzeptieren, als die er sich anbot, und auch nicht als das kleinere Übel, als das man ihn vorübergehend betrachtete. Einen solchen Menschen mußte man, um ihn auf Dauer akzeptieren zu können, lieben. Die andersgearteten Interessen der westlichen Politik trieben die Illusionen zurück nach Ungarn, und in immer dickeren Fladen lagerten sie sich an dem ungeheuer geschickt kreierten Image Kádárs ab: an dem Bild vom puritanischen Proletarier, der das Zeremoniell verabscheut, in volkstümlicher Färbung spricht, sich mit Leitungswasser wäscht, schlecht liest, aber gut Schach spielt.

Eine Rolle spielte dabei aber auch das Ende der sechziger Jahre gestartete wirtschaftliche Reformexperiment. Marktwirtschaftliche Elemente wurden in das Rahmenwerk der Planwirtschaft eingefügt. Diese Experimente führten zum Gulaschkommunismus, jener armseligen osteuropäischen Variante der Verbürgerlichung, die aber dennoch relativ breiten Schichten zu etwas Eigentum verhalf.

Diese bescheidenen Wohltaten konnten die Intellektuellen von einem Vaterlandsverräter und Massenmörder nicht guten Gewissens annehmen. So erstickten sie das nach der Niederschlagung der Revolution aufgestaute peinliche Bewußtsein. Übrigens hatten sich ja auch die westlichen Politiker und Journalisten – einer ähnlichen Logik folgend – die Kunstgriffe der Psycho-Gymnastik zu eigen gemacht: Wenn nun Ungarn schon mal die beste real existierende Baracke im sowjetischen Lager war, dann mußte Kádár unterstützt werden; und um das tun zu können, mußte seine Vergangenheit in eine Wolke gnädigen Vergessens gehüllt werden.

Die Zähigkeit der an Kádár geknüpften Illusionen ist damit zu erklären, daß lange Zeit hindurch in Ungarn das Lebensniveau tatsächlich stieg und daß die uns gewährte Freiheitsration ausgiebiger war als in den übrigen Satellitenstaaten. Die in die Genossenschaften gezwungenen Bauern vermochten sich mit einträglichen Haus- und Hofwirtschaften zu trösten, die Arbeiter mit ihren gesicherten Arbeitsplätzen durften nach Ablauf – oder während – der regulären Arbeitszeit nach Belieben pfuschen, und die Intelligenz konnte Kafka, Proust und Joyce lesen. In festgesetzten Intervallen erhielt praktisch jeder einen Reisepaß, und die demokratische Opposition wurde zwar von der Polizei schikaniert, aber nicht eingesperrt.

Dem Kádárschen Idyll machte aber nicht die Krise des sowjetischen Imperiums den Garaus, vielmehr erlitten beide am selben Felsen, der Lebensunfähigkeit der Planwirtschaft, Schiffbruch. Kádár setzte sich als ehemaliger Arbeiter mit besonderer Vehemenz dafür ein, daß es während seiner Herrschaft in Ungarn keinen einzigen Arbeitslosen geben durfte; die am sowjetischen Modell orientierte Wirtschaftspolitik erhielt eine zunehmend rückständige Industriestruktur künstlich am Leben.

Als 1979 dennoch die Preisstützungen für die Konsumgüter reduziert werden mußten, hatte die Bevölkerung zum ersten Mal seit Mitte der sechziger Jahre das Gefühl, daß Kádár sein Versprechen nicht einhielt. Es ist wohl ein mysteriöser Zusammenhang zu erahnen zwischen dem Schweinefleischpreis und dem historischen Gedächtnis eines Volkes: Jedenfalls begannen die Käufer angesichts der steigenden Preise für Schweinskeulen einander immer öfter zu fragen, ob es denn nicht dieser Kádár war, der vor einem Vierteljahrhundert Imre Nagy aufhängen ließ.

Der Dialektik der Illusionen entsprang, daß die Krise des Vertrauens die Hoffnungen, um derentwillen wir bisher auf einen Teil unserer Freiheit verzichtet hatten, auf das Meer der Freiheit hinaustreiben ließen. Der Parteienstaat bricht zusammen, die Russen scheren sich aus dem Land, und wir werden frei sein in einer freien Welt. Freilich, dafür, sich mit derartigen Illusionen zu brüsten, sind kleine Länder, die der Appetit benachbarter Großmächte bedroht, besonders anfällig. „Unser ist alles Elend, aber wir sind frei“, tönte schon 1847 – also ein Jahr vor Ausbruch des ungarischen Freiheitskampfes gegen die Habsburger – der göttliche Dichter Petöfi, das Los der Wölfe einem Hundeleben vorziehend.

Die Wirklichkeit ist aber profaner als diese erhabene Wahrheit: zum Beispiel, wenn sich zur Freiheit Existenzunsicherheit, Arbeitslosigkeit und Inflation gesellen. Den schnellen Illusionsverlust beschleunigte schließlich der Umstand, daß der Westen drei Jahrzehnte nach Niederschlagung der ungarischen Revolution erneut die in ihn gesetzten Erwartungen enttäuschte. Auf die politische Befreiung der Länder des Sowjet-Blockes reagierten die Finanzinstitute der westlichen Welt mit einer kleinlichen Krämerlogik.

Der Westen verlangt von uns die totale ökonomische Systemtransformation, und nur bei den vom Parteistaat geerbten Schulden besteht er auf Kontinuität. Die unsichtbare finanzielle Abhängigkeit erscheint in den Augen der Bevölkerung mystischer und endgültiger als die viel handfestere militärische Unterdrückung, obwohl diese gegen Ende der Kádár-Zeit von den Leuten weniger auf der eigenen Haut verspürt und noch weniger mit dem sinkenden Lebensniveau in Zusammenhang gebracht wurde.

Erschwert wird die Lage noch dadurch, daß sich der Systemwandel in den Bereichen Politik und Freiheitsrechte viel stärker bemerkbar machte als bei den Eigentumsverhältnissen. Der Privatisierungsprozeß begann 1988, unter Leitung der reformkommunistischen Regierungen Károly Grósz und Miklós Németh. Zu dieser Zeit war die Wirtschaftsnomenklatura der späten Kádár-Ära durch ihr Sachwissen, ihre Beziehungen und ihre materielle Lage enorm im Vorteil. Ihre Machtstellung vermochte sie mühelos in wirtschaftliche Positionen umzumünzen.

Diesen Vorgang konnte auch die 1990 an die Macht kommende Rechtskoalition nicht rückgängig machen. Nachdem sie aus politischen Gründen niemanden vom wirtschaftlichen Wettbewerb ausschließen konnte, bremste sie einfach das Tempo der Privatisierung. Dazu neigte sie schon von vornherein, denn József Antall und seine Mannschaft hatten in den Jahrzehnten des Parteistaates gelernt, daß die Regierung um so stärker ist, je mächtiger der Staat ist, und daß der Staat um so mächtiger ist, je mehr Eigentum er besitzt.

Bei den ersten freien Wahlen 1990 hielten sich die realen und die illusorischen Präferenzen in der Bevölkerung die Waage. Man stimmte für parlamentarische Demokratie statt Parteistaat, für Vielfalt der Eigentumsformen statt Staatseigentum. Diese realistischen Entscheidungen waren aber von einer Nebelwand von Illusionen umstellt. Im Rausch der Freiheit schien es, als wäre uns mit der Wahl des westlichen Ideensystems mit einem Schlag auch das westliche Lebensniveau in den Schoß gefallen. Dieser Rausch wurde noch durch nationale Spirituosen gesteigert: Wir sind in der ganzen Region die würdigsten Empfänger westlicher Gaben, wir haben das erste Loch in den Eisernen Vorhang geschnitten ...

Antall erklärte sich schnurstracks zum Regierungschef von „15 Millionen Ungarn“, was in der Folge die ohnehin nie ruhende Ungarn-Feindlichkeit in den Nachbarländern anstachelte. Die Rechtsregierung, die sich lange Zeit gegenüber der extremen Rechten unendlich offen zeigte, versuchte das Illusionspotential, das nach der Enttäuschung der Erwartungen an den Westen frei wurde, auf den Boden des Nationalen umzulenken. Erneut wurde das alte Kurpfuscherrezept salonfähig: Es müsse nur die bazillenträchtige amerikano-judeo-kosmopolitische Fäkalie mit ungarischem Husaren-Mut aus dem ungarischen Volkskörper ausgeschieden werden.

Antall selbst und seine Kindheitsgespielen im Zentrum der Regierungspartei pflegten über den Lumpengeruch dieser Art von Demagogie die Nase zu rümpfen. Ihre Schwäche war die Historie. Diese rehabilitierte Reichsverweser Miklósz Horthy und stilisierte die im Zweiten Weltkrieg mit Hitler verbündete ungarische Armee zur Heimatverteidigerin.

Bei der Horthy-Umbettung im Herbst 1993 marschierte vor dem staunenden Auge des Fernsehzuschauers ein Ungarn der Herrenreiter und Pußta-Aristokretins auf, das – eher einem absurden Wahnbild gleichend – keine Illusionen mehr weckte. Antall und sein Nachfolger Peter Boross, die ihren Popularitätsverfall spürten, griffen bei Wahrung des christlich-nationalen Pathos auf die Methoden des alten Parteistaates zurück. Immer saftigere Tranchen der Wirtschaft, des Bankensektors, der Massenmedien und der Kultur wurden der direkten Kontrolle der Regierung

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unterstellt. Der aus oben geschilderten Gründen stockende Privatisierungsprozeß wurde zur Etablierung einer eigenen Klientel ausgenutzt. Über geheime und halb geheime Stiftungen wurden mit dem Geld der Steuerzahler mächtige Lobbys organisiert.

All dies zerstreute auch diejenigen Illusionen, die über das alleinseligmachende Wesen der nationalen Idee gehegt wurden, ja selbst auch die, die sich an den Systemwechsel als solchen knüpften. Im Mai liefen dieselben Wähler, die sich vorher von denen, die gegen die Staatspartei antraten, neben der Freiheit auch den wirtschaftlichen Aufschwung erwartet hatten, mit ihren Wünschen und Illusionen zur Nachfolgerin ebenjener Staatspartei über. Die Sozialisten vermochten deshalb mehr als 30 Prozent der Stimmen für sich zu gewinnen, weil die von Existenzunsicherheit und Verarmung bedrohten Massen statt nationaler Tollkirschen lieber Schweinsbraten zu speisen wünschen, und zwar zu den staatlich gestützten Preisen der Kádár-Äara.

Die neue Regierung – eine verblüffende Verbindung der ehemaligen Staatspartei mit der ehemaligen demokratischen Opposition, bei der die Verkommenheit der ungarischen Rechten die Rolle der Kupplerin spielte – stellt aber anstatt eines hochschnellenden Lebensniveaus weitere Restriktionen, eine weitere Verarmung der Armen in Aussicht. Der sozialistische Finanzminister will dem unerträglich hohen Budgetdefizit mit der Rezeptur eines beinharten Kapitalismus beikommen. Die Freien Demokraten reden von sozialer Marktwirtschaft, denken aber ebenso wie der Finanzminister. Die Führer der großen Gewerkschaften, die sich schön in die Sozialistische Partei integrieren, stellen die irreale Forderung nach Bewahrung der Arbeitsplätze und des Reallohnniveaus. Der Ministerpräsident wiederum ermutigt all diese miteinander unvereinbaren Strömungen.

Die Regierungskoalition, die im Parlament eine Zweidrittelmehrheit hat, begann ihr Wirken damit, völlig unnötigerweise die Verfassung zu modifizieren und unmittelbar vor den Kommunalwahlen ein neues Wahlrecht durchzupeitschen. Damit verbitterte sie die ohnehin mit einem Mangel an Selbstvertrauen ringenden Oppositionsparteien, die schon jetzt über eine „Verfassungsdiktatur“ lamentieren. Ohne über prophetische Begabungen zu verfügen, wage ich vorauszusagen, daß sie dies zu ihrer Gewohnheit machen werden, auch dann, wenn die Regierungsparteien zu zahmen Häschen werden sollten. Doch wenn die „Diktatur des Parlaments“ herrscht, dann – nicht wahr – appelliert die Rechte gerne an die Weisheit der Straße. Ein paar Oppositionspolitiker kokettieren bereits mit der Rolle eines Jörg Haider. Sie spekulieren darauf, die mit knurrendem Magen aus ihrem Traum vom Wohlstand erwachende Bevölkerung mit nationalen Tollkirschen füttern zu können.

Die Menschen in Ungarn fühlen zwar, daß ihnen noch schwere Jahre bevorstehen, aber sie scheinen noch ihren Hoffnungen treu zu bleiben. Sie werden gut daran tun. Denn eine Gesellschaft, die zu viele unterschiedliche Illusionen zu schnell hintereinander begräbt, liefert sich der Begehrlichkeit ihrer Vergewaltiger aus. Der Zug holpert noch immer durch den Tunnel. Aber wenn wir davon ausgehen, daß die Richtung nunmehr einigermaßen stimmt, dann ist die entscheidenste Frage der ungarischen Politik: Verbraucht sich der letzte Rest von illusionsgetränktem Vertrauen noch vor dem Ende des Tunnels oder nicht?

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