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Die Unmöglichkeit des Reinen

■ Thalia-Theater: Gastspiel von Peter Sellars mit „The Merchant of Venice“ Von Till Briegleb

Mit den Füßen auf dem Boden und dem Kopf in den Blitzen – so agiert das Ensemble des amerikanischen Regieweltstars Peter Sellars. Mit scheinbar spielerischer Leich-tigkeit, die im krassen Gegensatz zu der Kraftanstrengung steht, die eine Erarbeitung von Shakespeares Kaufmann von Venedig ohne Streichungen den Beteiligten abverlangt (Dauer über 4 Stunden), überbrücken sie eine weite Spanne: Zwischen einer modisch-mörderisch-medialen Gegenwart und der Renaissance-Tragödie um ein Pfund Menschenfleisch als Pfand. Hier gelingt plötzlich das, was so vielen „Aktualisierern“ von klassischen Stoffen mangels eigenem Gegenwartsbezug so langweilig mißlingt: der direkte Transfer von Shakespeares Menschen und Konflikten in ein zeitgenössisches Szenario, dem man nicht damit genügt, daß man Kunstmenschen in Anzüge stopft und sie heutig babbeln läßt.

Auch Sellars gewandet seine Schauspieler in den Stilen des Jahres, aber darüber hinaus besitzt er das Gespür für Parallelen. Er nimmt die Gesellschaft in ihrer komplexen Form wahr und stößt so, aus seiner Kenntnis diverser Subkulturen, auf gleichgewichtige Charaktere dort, wo man sie nicht vermuten würde. So findet er den marokkanischen Prinzen, der um die schöne Portia buhlt, nicht in dem albern ausstaffierten Abziehbild eines Mohren, sondern in der Parallelität von Statussymbolen. Folglich ist sein Prinz ein mit Goldketten behängter, in Versace-Jackett gekleideter und ski-bemützter Hip Hop-Poser, der trotz vergeblicher Liebesmüh' cool bleibt.

Daß Sellars seine Figuren in einer Art ernst nimmt, die wenig mit Äußerlichkeiten und Kunst-Wollen aber gehörig mit der historischen Kontinuität von Demütigung und Macht, Angst und Sehnsucht zu tun hat, läßt sich auch an allen anderen Rollen weiterverfolgen. Shylock etwa, ein geschäftiger „Martin Luther King der Rache“, definiert vom ersten Moment an die Gleichartigkeit von Rassismus und läßt hinter dem gehässig gespuckten „Jew“ das adäquate „Nigger“ hören. Ihm gegenüber Antonio, der Kaufmann von Venedig, ein Latino, der den Rassismus, den er von den europäischen Amerikanern zu erdulden hat, unverstanden potenziert auf die Schwarzen kackt. Aber auch jede andere Rolle in dem personenreichen Stück macht Sellars durch kluge Beobachtung der us-amerikanischen Soziologie gegenwärtig, die sich mit nur unwesentlichen Schwenks auch auf die hiesige Gesellschaft übertragen läßt. Homoerotische Gangkultur von „Gast“-arbeiter-Jugendlichen, eine sich humanistisch gebende Klassenjustiz oder die unverkrampfte weibliche Lebenshaltung nach überstandener Emanzipation erklären sich stimmig im Geiste des Stückes.

Durch diese präzise Transformation längs der wesentlichen Linien menschlicher Konflikte kann Sellars auf zwei Hilfsmittel verzichten, mit denen das deutsche Stadttheater so gerne blendet: Kulisse und Jargon. Den Text läßt Sellars unbehauen (Bühnensprache: Englisch mit gelegentlichen Übertiteln) und der Raum ist leer. Nur Schatten und Monitore erzeugen einen feinen Schmelz zusätzlicher Atmosphäre. Die Videocamera übernimmt die Rolle des Voyeurs, wackelige Filmbilder aus der Hand zeigen die heile Welt amerikanischer Mittelklasse. Die Assoziationen sind frei, aber nicht ungelenkt.

Der Mensch, wie ihn Peter Sellars zeigt, zählt in seiner ganzen Unvollkommenheit. Weniger das unter-Schuld-zerschmettert-Sein der sich entfesselnden Tragödie wird von ihm an die Rampe getragen, als das Bekenntnis zur Unmöglichkeit des Reinen. Und selbst wenn er die Aufstände in Los Angeles anläßlich des Rodney-King-Prozesses in der Prozeß-Szene des Stückes, die Shylocks Untergang besiegelt, einspielt, gerät dies nicht zur platten Rassismus-Anklage. Sellars vermischt die Bedeutungsebenen derartig geschickt, daß sich letztendlich ein großes humanistisches, ja fast christliches Ideal zu erkennen gibt: Haß ist es nicht wert! Eine Moral, die man sich gefallen läßt.

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