: Fernschach mit Schäuble
Der Sozialphilosoph Charles Taylor im Geistergespräch mit Jürgen Habermas und Marlon Brando ■ Von Dieter Thomä
Die geistig-moralische Situation unserer Zeit läßt sich erzählen wie ein Witz. Er spielt im Café, vier Freunde, die sich lange nicht gesehen haben, streiten darüber, wie man glücklich wird.
Der erste, Unternehmer und Single, redet wie der Philosoph Immanuel Kant: „Ich finde es am besten, wenn man fest einen Standpunkt vertritt, der weder im Himmel noch auf der Erde auf etwas gestützt wird.“
Der zweite, Ökobauer und Familienvater, redet wie der Dichter Friedrich Hölderlin: „Mir ist es am wichtigsten, mit allem, was lebt, einig zu sein und in seliger Selbstvergessenheit zum All der Natur zu gehören.“
Der dritte, Psychologe, aber selbst in Therapie wegen seiner gescheiterten Ehe, redet wie der Dichter Novalis: „Das Wichtigste ist, sich selbst zu finden, deshalb bin ich gerade auf dem geheimnisvollen Weg nach innen.“
Der vierte schließlich, Einzelhändler und treuer Leser von Heiratsanzeigen, redet wie der Dichter John Milton. „Für mich ist die Kenntnis dessen, was uns das Leben täglich nahelegt, die wahre Weisheit.“ Und dann?
Dann erwartet man, zugegeben, die Pointe und will wissen, wer am Ende dumm dasteht. Doch der Witz ist noch nicht fertig. Jeder erzählt ihn täglich ein bißchen weiter, wenn er sich fragt, welches Leben wirklich guttut, und es ist nicht damit zu rechnen, daß man sich auf eine einzige Pointe festlegen wird, denn die Devise lautet heute: Hier stehe ich – und kann vielleicht auch anders.
So wird aus der Farce Ernst und aus dem Gespräch im Café der alte, immer neue Streit ums gute Leben. Charles Taylor, der kanadische Philosoph, der zum „Dutzend der bedeutendsten lebenden Philosophen“ zählt (Richard Rorty), hat in seinem Buch über die „Quellen des Selbst“ die moderne Geschichte jenes Streits erzählt. Unsere vier Witzfiguren sind seine Hauptpersonen: Er zeigt, wie sich die „Entstehung der neuzeitlichen Identität“ als Wechselspiel, Kampf und Krampf zwischen dem selbständigen, „desengagierten“ Subjekt, dem Naturfreund, dem Verinnerlichten und dem Alltagsmenschen erzählen läßt.
In Taylors großartigem Buch erleben zwei zentrale Themen unserer Zeit ihr ersehntes Rendezvous: die Suche nach dem Selbst und die Begutachtung der Moderne.
Wer – wie ein Goldsucher den Goldrausch – als Selbstsucher die Selbstsucht hinter sich hat, dem bietet Taylor das Rezept für den Morgen danach. Für die Orientierungswaisen von heute veranstaltet Taylor als Kommunitarist ein weltgeschichtliches Familientreffen, auf dem nichts Menschliches ihnen fremd bleibt. Nicht den Fluchtweg zum individuellen Glück bietet er an, sondern einen Gedächtnislauf, dessen Motto lautet: Sag mir, wie du warst, und ich sage dir, wer du bist.
Selbstbespiegelung und Selbstbeherrschung, Verinnerlichung und Welteroberung, Eigen- und Nächstenliebe, Bodenständigkeit und Phantasterei, Ausbeutung und Anhimmelung der Natur – das ist die Mitgift der Geschichte an die Gegenwart. Wer sie ausschlägt, wer sich seiner Verwandtschaft zu entziehen sucht, „verstümmelt“ nach Taylor sein „Selbst“. Zudem schneidet er sich ab von den moralischen „Quellen“ der Vergangenheit, aus denen sich sein gutes Leben speisen könnte.
Von der verschlungenen – gelegentlich verschnörkelten – Erzählung wechselt Taylor hier unbekümmert hinüber zur Beurteilung und Bewertung; denjenigen, die es auf universal geltende Normen abgesehen haben, wird das nicht genügen. Der Wünschelrutengänger Taylor entdeckt neben der religiösen Tradition zwei Quellen der Moral, zwei „Hypergüter“, aus denen sich ein gutes Leben speisen könnte: Die „nüchterne Ethik der selbstverantwortlichen Freiheit“ setzt auf die Würde und die Autonomie des Menschen; die Hinwendung zur Natur weckt ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, in dem man „dem Leben und dem Glück der darin enthaltenen Geschöpfe“ verpflichtet ist.
Beide „Quellen“ haben nach Taylor, für sich gesehen, ihre Tücken: Der autonome Mensch kann zum selbstgefälligen, herrschsüchtigen Subjekt verkommen; die Verbundenheit mit der Natur kann in blinder Hingabe enden. Einstweilen „toben die moralischen Konflikte der modernen Kultur im Innern eines jeden von uns“, schwanken wir zwischen Freiheit und Gemeinschaft, Selbstbestimmung und Weltverbundenheit; zur Krönung seines welthistorischen Familientags hofft Taylor auf die Selbstheilungskräfte der Moderne, auf „versöhnlichen Ausgleich“. Um der Harmonie willen neigt Taylor zum Rückzug in die heile Welt; er schätzt die frühneuzeitliche „Heimkehr in einen Garten“, die „dankbare Annahme eines begrenzten Raums mit seinen eigenen Unregelmäßigkeiten und Unvollkommenheiten, in dem jedoch etwas blühen kann.“ Taylor will aber, jenseits der Idylle, auf die Ahnung einer großen heilen Welt nicht verzichten. In einer ernüchternden Pointe buchstäblich auf der letzten Seite seines Buches spricht er der Moderne, in die er sich versenkt hat, sein Mißtrauen aus und verweist auf die „zentrale Verheißung einer göttlichen Bejahung des Menschen.“
Taylor verbreitet in seinem Buch freilich keine behäbige Weltanschauung. Als hochgebildeter (und meist leicht verstrubbelter) Rebell kämpft er für ein „erneuertes Verständnis der Neuzeit“: „Mit den heute geläufigen Ansichten über dieses Thema kann ich mich gar nicht anfreunden.“ In der Sache liefert er Argumente für diverse Streitfälle: Es lohnt sich, Taylor aus der Geschichte der Moderne heraus- und in Auseinandersetzungen hineinzuziehen. Man kann es wagen, mit ihm eine Art Simultanwettbewerb in geistigem Fernschach zu veranstalten; im folgenden wird der Spielbericht dazu geliefert.
1. Partie: Taylor und Schäuble. Die Säulen von Schäubles neuem „Deutschland“ heißen Leistungsgesellschaft und Gefühlsgemeinschaft. Die „Verantwortung für das Ganze“ beruht nach Schäuble nicht nur auf demokratischem Engagement, sondern – und hier bezieht er sich ausdrücklich auf Charles Taylor – auf einem „Gefühl“ der Zusammengehörigkeit, das die „Mitbürger verbindet“. Taylor wird freilich nicht viel von Schäubles Vereinnahmung halten. Während dieser gegen das „kalte Projekt“ der Demokratie die „identitätsstiftenden emotionalen Bindekräfte“, die „Schicksalsgemeinschaft“ der „Nation“ stärken will, gehört nach Taylor zum „Gefühl“ der Zusammengehörigkeit die Gestaltung von unten. Taylor liefert ein radikaldemokratisches Plädoyer für das „Gut“ des „Gemeinwesens“, das „respektiert und gepflegt“ werden soll.
Um der Leistung willen bleibt Schäuble ein klammheimlicher Anhänger des modernen Egotyps, des individualisierten „desengagierten Selbst“. Zu diesem gehört nach Taylor die Zerstörung der sozialen Zusammenhänge, die Schäuble doch um der Gefühlsgemeinschaft willen hegen und pflegen will. Schäuble versucht also, anders gesagt, die Tasse vollzuschütten, die er zuvor hat in Scherben fallen lassen. Er steht für die „unerschütterliche Selbstzufriedenheit“ des Westens (Taylor) – und auch für dessen unerschütterliche Selbstwidersprüchlichkeit: eine Collage aus Zusammenhalten, Hauen und Stechen. Die Partie gegen Schäuble geht an Taylor.
2. Partie: Taylor und Botho Strauß. Taylor könnte zum Schrecken der konservativen Zeitdiagnostiker in Deutschland avancieren – und zwar deshalb, weil er ihnen ihre eigenen Begriffe raubt. Während diese den modernistischen Experimenten die Tradition starr entgegensetzen, erscheint diese bei Taylor gerade als gigantisches Experimentierfeld. Wenn Botho Strauß von der „Übermacht einer Erinnerung“ spricht, „die den Menschen ergreift ..., die ihn vereinsamt und erschüttert inmitten der modernen aufgeklärten Verhältnisse“, dann kann Taylor ihn höchstens wegen seines demütigem, unproduktiven Umgangs mit der Vergangenheit bemitleiden. Auch gegen Strauß trägt er den Sieg davon.
3. Partie: Taylor und die Nachtwächter der Megamaschine. Indem Taylor das eigene Recht und die eigene Kraft ethischer Fragen betont, fordert er all diejenigen heraus, die das (post)moderne Leben als bloßen Schauplatz technischer und medialer Prozesse sehen. Sein Ansatz enthält auch eine – versteckte – Spitze gegen Heidegger und die frühe Frankfurter Schule. Deren Blicke blieben – aus ganz gegensätzlichen Gründen – starr auf die Technik respektive die Verdinglichung gerichtet; sie verloren damit den alltäglichen Fortbestand sozialer Lebensformen aus den Augen und besiegelten so erst die Abhängigkeit von der Technik. Manche, die zur Zeit mit Heideggerschen Hausmitteln Heilung für geschundene Seelen im Zeitalter der „Technik“ versprechen, machen im Vergleich zu Taylor eine klägliche Figur. Er bleibt auch hier überlegen.
4. Partie: Taylor und die Selbsterfinder. Anders als die Konservatoren der Tradition und die Melancholiker der Maschine sehen Taylors nächste Gegner phantastische Freiheiten vor sich. Als ihr Vorkämpfer würde sich gut jener junge Künstler eignen, der abends spät auf einer Party nichts Alkoholisches trinken wollte und dies damit erklärte, daß er noch arbeiten müsse. Woran er denn arbeite, wurde er gefragt, und seine Antwort war: „An mir selbst.“ Wer die Selbstbearbeitung und -erfindung kultiviert und alles zum Spielmaterial macht, erliegt einer Täuschung über sich selbst und seine Stellung in der Welt. Dies wird von Taylor in Auseinandersetzung mit Derrida und Foucault eher behauptet als begründet, aber auch hier kommt Taylor noch um eine Niederlage herum.
5. Partie: Taylor und Habermas (I). Jürgen Habermas hält die „historisch reich instrumentierte Untersuchung“ Taylors, den langen Marsch durch die Traditionen für eine Nebensache. Für Habermas' „postkonventionelle“ Moral ist das, was geschichtlich vorgegeben ist, eine Ansammlung von Angeboten, keine Festlegung von „Gütern“. Ihm genügt es, wenn die Menschen sich im modernen Konsens gegenseitig als „autonome“ Personen respektieren. Wie dann jeder einzelne das persönliche Wohl und das gute Leben anlegt, darüber will er – im Gegensatz zu Taylor – nicht rechten.
Habermas trifft einen wunden Punkt. Taylor kann im Ernst nicht festlegen, daß es ein „gutes Leben“ nur mit seiner idealen „Güter“- Harmonie, mit der Balance von Weltverbundenheit und Selbstbestimmung gebe. Wie – mit Taylor – Gut und Böse „realistisch“ in der „Natur unserer Empfindungen“ zu verankern sein soll, bleibt unklar. Letztlich enthält seine große Erzählung bloß eine sanfte Empfehlung, letztlich ist das Ganze zwar gut gemeint, aber nicht wirklich gut begründet. Diese Partie muß Taylor verloren geben.
6. Partie: Taylor und Habermas (II). Taylor trifft umgekehrt einen wunden Punkt bei Habermas. Dieser hat einmal eher beiläufig ange
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merkt, sein Konsensmodell sei „auf entgegenkommende Lebensformen angewiesen“: Ohne Menschen, die eine Neigung dazu haben, steht sein Projekt der Moderne in der Tat nur auf dem Papier. Und da derzeit gesinnungslose Politikverdrossenheit und verdrossene Gesinnungstäter auf dem Vormarsch sind, beschleicht Habermas vielleicht gelegentlich wie ein Alptraum die Ahnung: Stell dir vor, es gibt Konsens – und keiner geht hin. Genau in diesen Momenten könnte er auf Charles Taylor zurückkommen.
Während Habermas sich gegen die „Lebensformen“ abgrenzt, begibt sich Taylor auf die Spur der Neigungen, die der Demokratie und ihrer Moral im Alltag „entgegenkommen“ können. Das Gefühl der Zusammengehörigkeit mit der Außenwelt, das den scheinbar unpolitischen Naturfreund erfüllt, wird dann ebenso bedeutsam für das Gemeinwesen wie der Überdruß an der Vereinzelung, der den modernen Individualisten befällt. Taylor gewinnt die Revanche.
7. Partie: Taylor über den Stinkefinger. Wer all der Werte einschließlich des leidigen Streits um den Stinkefinger überdrüssig ist, könnte sich an einen Jüngling halten, der bei S÷ren Kierkegaard das Sagen hat: „Man steckt den Finger in die Erde, um zu riechen, in welch einem Lande man ist, ich stecke den Finger ins Dasein – es riecht nach nichts. Wo bin ich? Was heißt das: die Welt? Was bedeutet dies Wort? Wer hat mich in das Ganze hinein betrogen, und läßt mich nun dastehen? Wer bin ich?“ Charles Taylor tut nichts anderes, als lange, wie ein besessener Weinkoster, an diesem Finger zu schnüffeln – und dabei spürt er an ihm eine Fülle von Aromen, von Duft und Gestank, von Lebens-Qualitäten auf, von denen das existentialistische Dasein gereinigt war. Die Frage „Wer bin ich?“ läßt sich nach Taylor nicht nackt vor dem Spiegel beantworten, sondern nur im Hinblick darauf, „was gut oder wertvoll“ ist.
Läßt sich das „Selbst“ so eng an solche Qualitäten und auch an moralische Wertungen binden? Kann dieses aufgewertete „Selbst“, von dem alle reden und das keiner je angetroffen hat, überhaupt zum Hort der „Gefühle im irdischen Gewühle“ werden – oder ist es eher nur eine konstruierte Instanz? Taylor kann seine starke Position in diesem Punkt nicht halten.
8. Partie: Taylor und Marlon Brando. Vielleicht ergibt sich einmal die Gelegenheit, daß Taylor seine große Frage „Wer bin ich?“ mit Marlon Brando erörtern kann. Der würde sich wahrscheinlich an einen Satz aus Bertoluccis Drehbuch zum Film „Der letzte Tango von Paris“ erinnern und sagen: „Ich will nicht wissen, wer du bist.“ („Non voglio sapere chi sei.“) Taylor wäre enttäuscht, und Brando würde sich an jenen Exzeß erinnern, aus dem dieser Film besteht: an eine Begegnung zwischen Mann und Frau, bei der es nur stören würde, wenn die beiden sich auch noch ihr Leben erzählen und ihr „Selbst“ moralisch erörtern würden. Solche Erfahrungen, die auf den Augenblick und auf das Vergessen angewiesen sind, haben auch außerhalb von Brandos Pariser Bett ihren Ort. Taylor aber beharrt auf Kontinuität, er bindet das „Selbst“ an die „Erzählung“. Hier wendet sich ein Vorwurf, den er sonst selbst gerne macht, gegen ihn: daß er Erfahrungen erschwert, die viele aus ihrem Leben nicht wegdenken wollen. Hier zeigt Taylor Schwächen.
9. Partie: Taylor über den Lebenssinn. „Wie sehr man über den Ausdruck spotten mag, der Sinn des Lebens steht ... auf unserer Tagesordnung“, meint Taylor. Wir sind, so sagt er, angewiesen auf einen „glaubwürdigen Rahmen ..., mit dessen Hilfe wir uns das Leben in spiritueller Hinsicht verständlich machen.“ Gibt es einen solchen „Sinn“ für das Leben im Ganzen, jenseits der konkreten Vorhaben und Erfahrungen, von denen ich mir Glück verspreche? Soll sich mein Leben von der Wiege bis zur Bahre in einen großen „Rahmen“ fügen? Der Berliner Philosoph Albrecht Wellmer hält nichts davon: „Die Frage nach dem Sinn des Lebens kann die Philosophie nicht beantworten, sie kann aber zeigen, was an der Frage falsch ist ... Das Problem dahinter ist die Realität von Verzweiflung, Unglück, Ungerechtigkeit und, wie man sagt, ,sinnlosem‘ Leiden ... Jemandem, der die Frage nach dem Sinn des Lebens stellt, kann man nur antworten: ,Was ist dein Problem?‘“ In diesem letzten Punkt muß Taylor eine Niederlage einstecken.
Taylor hat sich in seinen Simultanpartien gut geschlagen – er wird freilich am Ende froh sein, wenn er statt des Streits wieder den Ausgleich suchen kann. Sollten gelegentlich wieder ein paar Freunde im Café sitzen und nach dem Witz des Lebens suchen, so wird vielleicht auch – zu Taylors Freude – einer dabeisein, der sich anhört wie eine Figur von Dostojewski: „Ich stelle mir vor, wir wachen eines Tages auf und stellen fest, daß es weder Gott noch Unsterblichkeit gibt und wir nur noch uns selbst haben. Da würde sich vielleicht so eine gegenseitige Herzlichkeit und Anteilnahme ergeben, daß die Welt in ein Paradies verwandelt würde.“
Wenn er zu Ende geredet hat, dann wird es aber wohl soweit sein: Die anderen werden in Gelächter ausbrechen.
Charles Taylor: „Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität“. Aus dem Englischen von Joachim Schulte. Suhrkamp Verlag 1994, 911 Seiten, geb., 160 DM.
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