: Die Zeitbombe im Mund
Experten streiten über die gesundheitlichen Folgen von Zahnfüllungen aus Amalgam ■ Von Wolfgang Löhr
Für den Toxikologen Max Daunderer ist die Zeit längst reif: „Amalgam muß sofort verboten werden.“ 10.000 Amalgamvergiftete hat der Münchener Arzt in den letzten Jahren untersucht. Die Symptome: Allergien, Störungen des Immunsystems, Nervenschäden, ständige Müdigkeit, Gleichgültigkeit, Gedächtnisschwäche. Während Daunderer die quecksilberhaltigen Zahnfüllungen dafür verantwortlich macht, sprechen zahnärztliche Organisationen von „unverantwortlicher Panikmache“ und „Amalgam-Hysterie“. Auf einer Expertenanhörung, zu der das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte am letzten Freitag geladen hatte, verteidigte der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, Professor Gottfried Schmalz, die weitere Verwendung von Amalgam. Der Füllstoff müsse „ohne Einschränkung“ verfügbar bleiben.
Unbestritten ist auch von ihm, daß eine kleine Anzahl von Patienten, etwa ein Prozent, allergisch auf Amalgam reagiert. Diese haben nur die Möglichkeit, auf Kunststoff- oder Goldfüllungen auszuweichen. Allgemein zugegeben wird mitterweile auch, daß Amalgamfüllungen zu einer erhöhten Ablagerung von Quecksilber im Körper führen. Durch Kauen, saure Speisen, heiße oder kalte Getränke wird die Freisetzung des Gifts stimuliert. Nach Angaben von Wolfgang Koch, Vorstandsmitglied der Internationalen Gesellschaft für Ganzheitliche Zahnmedizin, ist nach fünfminütigem Kaugummikauen ein Anstieg der Quecksilberkonzentration in der Atemluft bis um den Faktor 100 feststellbar. Dieser Wert übersteigt sogar die maximal erlaubte Arbeitsplatzkonzentration von 10 Mikrogramm je Kubikmeter um ein Vielfaches. Aber auch mit dem Speichel wird der Blutbahn das giftige Quecksilber zugeführt. Je nach Anzahl und Zustand der Zahnfüllungen liegt die Konzentration bis zum 140fachen über der zulässigen Quecksilberkonzentration im Trinkwasser.
Einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der Anzahl der Amalgamfüllungen und der Quecksilberbelastung der Nierenrinde, der Leber und des Gehirns wurde am Institut für Rechtsmedizin in München nachgewiesen. Professor Gustav Drasch untersuchte dort Leichen und fand heraus, daß die Konzentration in den Organen der Verstorbenen mit der Anzahl der Amalgamfüllungen ansteigt. Ein ähnliche Korrelation konnte der Rechtsmediziner zwischen dem Amalgamstatus von Müttern und Organen von Feten, Neugeborenen und Kleinkindern nachweisen. Über Plazenta und Muttermilch wird das giftige Quecksilber an die Kinder weitergeben.
Während einige Ärzte aus diesen Ergebnissen den Schluß ziehen, die Verwendung von Amalgam sei unverantwortlich und müsse sofort gestoppt werden, sagen die anderen: „Es besteht keine Gefahr, da die Quecksilberwerte weit unter den toxischen Konzentrationen liegen. Auf dem Berliner Hearing konnte jedoch keiner der geladenen Experten einen unbedenklichen Grenzwert nennen. „Im Niedrig-Dosis-Bereich gibt es viel zu wenig wissenschaftliche Daten“, so die beim Bundesinstitut zuständige Wissenschaftlerin, Tamara Zinke, „um eine Bewertung abgeben zu können.“ So ist nichts bekannt über das Verhalten der verschiedenen Quecksilbersalze, wo sie abgelagert werden und wie sie zum Beispiel in die Entwicklung von Kleinkindern eingreifen.
Der Zahnarzt Koch hat seine Konsequenzen daraus gezogen. Er und über 1.000 andere ganzheitlich ausgerichtete Kollegen verzichten in ihrer Praxis vollständig auf Amalgam. Die obersten Gesundheitsschützer sind da nicht ganz so schnell. Zwar hat das inzwischen aufgelöste Bundesgesundheitsamt (BGA) schon 1987 die – nicht bindende – Empfehlung herausgegegeben, bei Schwangeren „keine umfangreichen Amalgamtherapien“ mehr vorzunehmen. Fünf Jahre später wurde die Indikation für Amalgam dann noch weiter eingeschränkt. Quecksilberhaltige Legierungen sollen nur noch in den Zahnbereichen eingesetzt werden, die besonders stark beim Kauen belastet sind. Wie der Leiter des Bundesinstituts, Alfred Hildebrandt, jetzt ankündigte, sind neue Maßnahmen geplant. Als eine mögliche Variante nennt er ein Anwendungsverbot bei Kleinkindern sowie bei Frauen im gebärfähigen Alter. In diesem Fall, so warnt die Kassenärztliche Bundesvereinigung, könnten die Zahnärzte gegenüber ihren Patienten die Verwendung von Amalgam nicht mehr glaubhaft vertreten. Sie würden dann ganz auf Amalgam verzichten.
Ob da die Krankenkassen mitspielen werden, ist fraglich. Der Umstieg auf andere Füllsubstanzen ist mit höheren Kosten verbunden. Sollten die jährlich rund 50 Millionen Amalgamfüllungen durch Kunststoffe ersetzt werden, muß mit Mehrkosten in Höhe von 2,5 Milliarden Mark gerechnet werden. Bei Gold würde dieser Betrag auf 25 Milliarden ansteigen. Bisher weigern sich die Krankenkassen, die Kosten für die teureren Alternativfüllungen zu übernehmen. Von Karies geplagte Kassenpatienten, die das Risiko einer Quecksilbervergiftung nicht eingehen wollen, müssen bisher noch in die eigene Geldbörse greifen.
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