: Wem nützt der Krieg in Tschetschenien?
■ Liberale Politiker, aber auch Militärs kritisieren Invasion der russischen Armee
Moskau (taz) – Rußland hat sich in ein riskantes Unternehmen gestürzt. Der Anlaß zur Invasion in der kleinen Kaukasusrepublik Tschetschenien – so will es die offizielle Version – sei die Wiederherstellung der „konstitutionellen Ordnung“ und die Erhaltung der „Einheit der Russischen Föderation“. Seltsamerweise bedrohte der Unabhängigkeitswillen der Tschetschenen die territoriale Integrität Rußlands nie wirklich. Lange geisterte die Bedrohung eines Zerfalls der Föderation durch die Medien, doch sie war lediglich ein verlängerter Reflex der Erfahrung mit dem Niedergang der Sowjetunion. Die Subjekte der Föderation suchten mehr Selbständigkeit gegenüber der Zentrale, von mehr war nie die Rede.
Übertreibung hat Methode, sie suggeriert Gefahr und wertet gleichzeitig jene Instanzen auf, die dem vermeintlichen Sicherheitsrisiko Einhalt gebieten können. Und dahinter verbergen sich die verschiedenen Sicherheitsorgane: Verteidigung, Geheimdienst und Innenministerium.
Seit dem Mord an dem Journalisten Cholodow im Oktober, der der Korruption in der russischen Armee auf der Spur war, hat sich die politische Führung ostentativ in Schweigen gehüllt und sogar zu blanken Lügen gegriffen. Tagelang leugnete etwa Verteidigungsminster Gratschow eine Beteiligung russischer Soldaten an den Kämpfen in Tschetschenien Ende November. Eine Woche später folgte ein Übergriff der jelzinschen Sicherheitstruppe auf den Chef der Mosbank. Die Öffentlichkeit fragte nach den Gründen und erhielt keine Antwort.
Wenn der Vorsitzende der demokratischen Partei „Wahl Rußlands“ Jegor Gaidar nach dem Einmarsch in Tschetschenien warnt, dies könne ein Vorspiel für die Verhängung des Ausnahmezustands im ganzen Land sein, malt er damit keinen Teufel an die Wand. Die Reaktion im demokratischen Lager ist eindeutig. Man lehnt eine gewaltsame Lösung im Kaukasus ab. Ähnlich reagierten die beiden Kammern des Parlaments. Über Parteigrenzen hinweg verurteilten sie die Entscheidung, die Präsident Jelzin nach der Sicherheitsratssitzung vergangene Woche gefällt hat. Danach tauchte der Präsident unter. Seine Nasenoperation ist eine Metapher. Doch wofür? Hat er seine Position gewechselt? Für Gaidar war Jelzin nicht zu sprechen.
Doch wenn Jelzin die Gefahr eingeht, die Unterstützung der liberalen Kräfte zu verlieren, muß er auf andere Kohorten bauen. Seit längerem wird gemutmaßt, daß in seinem Umkreis jene Leute aus den Sicherheitsorganen an Einfluß gewonnen haben, die „harte Lösungen“ favorisieren. Dafür spricht auch die Verlagerung des politischen Schwerpunkts auf machtvolle und laute Demonstrationen in der Außenpolitik. Nicht zufällig reagierte ausgerechnet Außenminister Kosyrew auf Gaidars Kritik mit dem „irreversiblen Austritt“ aus dessen Parlamentsfraktion. Es scheint, als neige man in Rußland wieder dazu, imperiales Interesse und vermeintliche Großmachtrolle über den notwendigen Aufbau einer demokratischen Gesellschaft zu stellen.
Eigentümlicherweise haben aber auch der populäre General Lebed und sein Kollege General Gromow die tschetschenische Strafaktion scharf kritisiert. Ihnen lassen sich ansonsten Zimperlichkeit und mangelnder Patriotismus nicht nachsagen. Es hat daher den Anschein, als wolle Verteidigungsminister Gratschow durch diesen Feldzug von den gegen ihn erhobenen Korruptionsvorwürfen ablenken. Verbündete für einen Ausnahmezustand lassen sich leicht im militärisch-industriellen Komplex finden, der mit besserer Auftragslage rechnen kann. Klaus-Helge Donath
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