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Die Kinder stellen oft ganz unverfrorene Fragen

■ Gespräch mit Inge Deutschkron, Haroun Sweis und Peter Ensikat, Mitglieder der Berliner Künstlerinitiative "Courage gegen Fremdenhaß", über ihre Erfahrungen in Berliner Schulen

Unter dem unmittelbaren Eindruck gewalttätiger Ausschreitungen Rechtsradikaler in Hoyerswerda gründeten 1992 Berliner SchriftstellerInnen die Initiative „Courage gegen Fremdenhaß“, unter ihnen Peter Schneider, F.C. Delius und Inka Bach. Seitdem stellen sich die AutorInnen für Lesungen und Diskussionen zum Thema Fremdenhaß an Schulen in Berlin und Brandenburg zur Verfügung. Mittlerweile wirken 188 KünstlerInnen, JournalistInnen und SchauspielerInnen in der Initiative mit. Drei von ihnen berichten gegenüber der taz von ihren Erfahrungen.

Inge Deutschkron, geboren 1922 in Finsterwalde, überlebte die 40er Jahre illegal versteckt in Berlin. In den 70er Jahren schrieb sie als Korrespondentin einer israelischen Zeitung in Bonn. Damals urteilte sie: „In den bundesrepublikanischen Ministerien sitzen vermutlich mehr ehemalige NSDAP- Anhänger als zur Zeit des Dritten Reiches.“ 1978 veröffentlichte sie ihre Autobiographie „Ich trug den gelben Stern“ und wirkte an einer Bühnenfassung ihrer Lebensgeschichte mit.

Haroun Sweis wurde 1954 als Sohn palästinensischer Eltern in Jordanien geboren. Anfang der 80er Jahre kam er nach West-Berlin, um Theaterwissenschaften zu studieren. Seit drei Jahren arbeitet er als Streetworker in Berlin und Brandenburg, veranstaltet Theaterprojekte und Diskussionen an Schulen.

Peter Ensikat, geboren 1941 in Finsterwalde, studierte an der Theaterhochschule in Leipzig und arbeitete in den Jahren 1962–74 als Schauspieler in Dresden und Berlin. Seit 74 ist er Schauspieler, Regisseur und Autor des Berliner Kabaretts „Die Distel“.

taz: Wie geht so eine Schulstunde ab?

Peter Ensikat: Das ist immer unterschiedlich. Manchmal wollen die Schüler überhaupt nicht reden. Da kommt dann immer die Bitte: „Ach, lesen Sie doch noch ein bißchen.“ Es gibt aber auch Stunden, in denen es gleich zur Sache geht. Zunächst wird immer bestritten, daß es so etwas wie Ausländerfeindlichkeit in der Klasse überhaupt gibt. Erst wenn man genauer wird, stellt sich heraus, daß sie unterirdisch eben doch da ist.

Haroun Sweis: Für mich als Ausländer ist das anders. Ich spüre auch unterschwellige Ressentiments sofort. Wenn die Schüler von mir hören, daß ich einen deutschen Paß besitze und daß ich nicht vorhabe zurückzugehen, kommen Vorwürfe wie: „du nimmst einem Deutschen den Arbeitsplatz weg“. Es sind immer nur einzelne Schüler in der Klasse, die einem zeigen wollen: Du gehörst nicht hierher.

Inge Deutschkron: Bei mir gibt es eigentlich nie einen Mangel an Fragen. Die Kinder sind unwahrscheinlich direkt, die stellen ganz unverfrorene Fragen wie: „Haben Sie psychische Schäden erlitten durch die Nazizeit?“ So offen und frei sind die. Vor einiger Zeit ist mir allerdings etwas Besonderes passiert, als ich vor einer Klasse in Hohenschönhausen las: Ein Zeitungsfotograf will gerade seine Aufnahmen machen, als plötzlich ein Mädchen aufspringt und sagt, sie wolle um Gottes willen nicht mit mir auf ein Foto. Ihre Freunde dürften nicht erfahren, daß sie mit einer Jüdin gesprochen habe. In diesem Stil ging es los. Da sagten dann auch andere, sie seien zwar nicht rechtsradikal, könnten das Mädchen aber dennoch verstehen. Es war unglaublich, was dann hochkam. Im ersten Moment war ich völlig sprachlos, aber dann haben wir drei Stunden diskutiert, obwohl es die letzte Unterrichtsstunde vor den Ferien war. Das war sehr aufregend. Die Lehrer sagten hinterher zu mir, sie hätten ihre Kinder nicht wiedererkannt.

Peter Ensikat: In der Klasse meiner Tochter gibt es einen Schüler, den immer alle für rechts hielten, der völlig isoliert war. Als meine Tochter hörte, ich ginge jetzt an Schulen, sagte sie: „Dann kommst du zuerst zu mir.“ In dieser Schulstunde kam heraus, daß der Junge das erste Mal vor der Klasse über sich sprach. Er war gar nicht wirklich rechtsradikal, hat nur etwas anders gedacht als seine Mitschüler. Ich befand mich dann in der paradoxen Rolle, ihn dauernd zu verteidigen. Ich sagte: „Ihr stürzt euch alle auf den einen und habt ihn noch nie reden hören.“ Toleranz heißt ja tatsächlich, den anderen und seine Meinung zu ertragen. Dazu gehört, ihn anzuhören, zu argumentieren. Wen man von vornherein ausschließt, der driftet doch erst richtig ab. Man muß ihn durch das Gespräch einbinden. Meine Tochter sagte hinterher zu mir, sie hätte den Jungen früher nie leiden können, aber der sei ja gar nicht so schlimm.

Welche Techniken benutzen Sie, um die Schüler zum Sprechen zu bewegen?

Haroun Sweis: Ich beginne meistens damit, daß ich aus meinem Leben erzähle, um sie neugierig zu machen. Ein Araber aus Jordanien, der kein Öl hat, sondern nach Berlin kommt und Theater studiert, das ist für die Kinder interessant. Manche Kinder fragen dann: „Habt ihr dort Häuser?“ Viele denken tatsächlich, in Jordanien lebt man noch in Zelten.

Inge Deutschkron: Als in einer Klasse zunächst niemand eine Frage stellte, drehte ich den Spieß einfach um: Ich fragte die Schüler aus, was ihnen ihre Großeltern vom Krieg erzählt hatten. Was sie berichteten, war erschütternd, aber so kamen wir ins Gespräch.

Peter Ensikat: Eine Westberliner Klasse bekam ich zum Reden, indem ich sie aufforderte, doch mal ein paar Ossi-Witze zu erzählen. Da tauten sie auf. Zuvor hatten sie vehement abgestritten, ausländerfeindlich zu sein, plötzlich erzählten sie Witze wie „Wer seinen Trabi verschrottet, kriegt 100 Mark, wer ihn mit Inhalt verschrottet, 500“.

Inge Deutschkron: Das kommt von dem Judenwitz mit dem Aschenbecher...

Peter Ensikat: Viele Witze aus der Nazizeit haben überlebt, im Osten wie im Westen. Aber es ist gut, herauszukitzeln, worüber auf dem Schulhof gesprochen wird. Wichtig ist, daß kein Thema tabuisiert wird, jede Frage muß zugelassen sein.

Welche Argumente gegen Ausländer begegnen Ihnen? Welche haben Ihnen besonders zu schaffen gemacht?

Peter Ensikat: Manchmal sind Wortführer dabei, die ungeheuer geschickt formulieren. Wenn jemand behauptet, es gäbe einfach naturgegebene Unterschiede zwischen den Rassen, wie soll man darauf reagieren? Letztendlich sind die Argumente billig, aber zunächst fehlen einem die Worte. Es hilft ja nichts zu sagen, alle Türken sind gut und alle Juden sind gut. Dann kommen die Schüler mit Geschichten, die das Gegenteil beweisen und die jeder schon mal erlebt hat.

Haroun Sweis: Schwierig wird es bei älteren Klassen. Dort sind einige bereits „organisiert“, das merkt man. Die warten meist ab, was die anderen fragen. Erst kurz vor Schluß der Stunde bringen sie dann Argumente, die so schnell nicht mehr zu widerlegen sind.

Einmal sagte ein Jugendlicher zu mir, er hätte den Benzinkanister schon geholt, um ein Haus anzuzünden. Ziemlich fassungslos antwortete ich: „Stell dir vor, ich würde jetzt aufstehen und dich anzünden.“ Dann hätte er halt Pech gehabt, meinte er nur. Darauf fiel mir dann keine Reaktion mehr ein.

Worin bestehen Ihrer Meinung nach die Ursachen für die Fremdenfeindlichkeit unter Jugendlichen? Was nennen die Schüler selbst als Gründe?

Inge Deutschkron: Im Osten bekomme ich immer wieder zu hören: „Unsere Eltern sind arbeitslos, uns haben sie die Jugendklubs geschlossen. Ist doch klar, daß wir rechtsradikal werden.“ In gewisser Weise kann ich das nachvollziehen, ihnen ist ja fast alles genommen worden.

Peter Ensikat: Da ist auch eine ganze Menge Nostalgie dabei, wenn jetzt die fehlende Fürsorge durch die Schule beklagt und den Klubs nachgeweint wird. Wer wollte die Fürsorge denn damals wirklich? Zu den Treffs gingen die Jugendlichen doch nicht etwa gerne. Da erinnert man sich wehmütig an etwas, mit dem man in Wirklichkeit nie etwas zu tun haben wollte. Außerdem hört man immer nur von den Klubs, die geschlossen werden. Bei uns wurde einer dichtgemacht, aber dafür an der nächsten Ecke ein neuer eröffnet. Die Klischees stimmen einfach nicht mehr.

Worin bestehen die Unterschiede zwischen Ost- und Westschulen?

Inge Deutschkron: Es ist immer noch eine ganz andere Atmosphäre. Im Osten scheuen sich die Schüler eher, Fragen zu stellen, im Westen sind sie freier. Das Wissen der Schüler ist auch ein ganz anderes. Im Osten wissen sie zwar über den Antifaschismus Bescheid, aber ich muß zum Beispiel noch oft erklären, was am 9. November 1938 passiert ist. Oder was unter den Nürnberger Rassegesetzen zu verstehen ist.

Peter Ensikat: Ich halte es dennoch für eine Fernsehsaga, daß der Rechtsradikalismus im Osten stärker sei als im Westen. Der ist importiert und weit weniger erfolgreich, als man zunächst befürchtet hat. Im Westen dagegen hat er sehr viel tiefere Wurzeln. Richtig ist, daß im Osten die bürgerliche Mitte fehlt, die dem Rechtsradikalismus Paroli bietet. Dafür sei der Staat zuständig, hört man immer wieder. Die Menschen haben nicht gelernt, sich zu wehren, da ist man im Westen schon weiter.

Also weniger Zivilcourage im Osten?

Inge Deutschkron: Das Wort Zivilcourage ist aus dem Vokabular der Deutschen gestrichen, im Osten wie im Westen. Auf die Frage „Was würdest du tun, wenn es einem Ausländer an den Kragen geht?“ wird ganz offen geantwortet: „Mich selbst in Sicherheit bringen.“ Für mich ist das besonders furchtbar, denn ich bin durch die Zivilcourage anderer Menschen überhaupt noch am Leben.

Wie klappt die Zusammenarbeit mit den Lehrern?

Haroun Sweis: Das Verhalten der Lehrer an ostdeutschen Schulen hat mich in der ersten Zeit schockiert. Die hatten noch das alte System im Kopf, kein Schüler durfte seinen Mund aufmachen, ohne vorher um Erlaubnis zu bitten. Mittlerweile hat sich die Situation ins Gegenteil verkehrt: Die Lehrer haben keine Macht mehr über die Schüler, sie werden überhaupt nicht mehr ernst genommen.

Peter Ensikat: Die Lehrer haben so lange indoktriniert, daß sie es jetzt nicht mehr wagen, sich überhaupt noch politisch zu äußern. Eine Lehrerin erzählte mir, sie traue sich an das Thema Rechtsradikalismus nicht mehr heran, aus Angst, ihren Schülern in ein oder zwei Jahren allein auf der Straße zu begegnen. Deshalb ist es den Lehrern sehr recht, wenn jemand von außen kommt und die Verantwortung übernimmt.

Wenn der Einfluß der Lehrer so schwach geworden ist, wie hoch schätzen Sie dann den Wirkungsgrad Ihrer eigenen Arbeit ein?

Haroun Sweis: Einem Jugendlichen, der in seiner rechten Ideologie schon gefestigt ist, dem können wir nicht mehr helfen, der braucht einen Psychologen. Wir können nur versuchen, die Kinder zu stärken, die noch nicht in der Szene drinstecken. Ihnen zeigen, daß sie nicht alleine dastehen, vielleicht Diskussionen im Elternhaus anregen. Als Außenstehender, der eine neutrale Position einnimmt, hat man eher die Chance, daß die Schüler einem zuhören.

Inge Deutschkron: Unser Ziel ist es, den Kindern Argumente gegen die Rechtsradikalen in die Hand zu geben. Deshalb ist es wichtig, so früh wie möglich in die Klassen zu gehen. Die 12- bis 13jährigen, deren Weltbild noch nicht gefestigt ist, müssen vorbereitet werden, noch bevor sie auf rechte Agitatoren treffen. Gespräch: Noäl Rademacher

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