: Von Swinging London zur Stadtnomadenwüste
■ Ein Londoner Historiker hat die Debatte um den Niedergang der britischen Hauptstadt neu entfacht / „Seit Jahrhunderten nicht so viel Unsicherheit wie heute“
London (taz) – Wie ein fast fünfzig Jahre alter Professor für Medizingeschichte sieht er nicht aus. Unter dem Sechstagebart grinst ein unverschämt breiter Mund mit wulstigen Lippen, der offene rote Hemdkragen gibt den Blick frei auf eine reich behaarte Brust mit Goldkettchen. So wandert Roy Porter auf die Bühne des „Royal Court Theatre“ im Londoner Stadtteil Chelsea, fängt an zu erzählen und hört nicht mehr auf.
„Ich wurde am Victory Day gezeugt, dem letzten Tag des Zweiten Weltkrieges“, erzählt der Südlondoner aus dem von Chelsea weit entfernten Stadtteil New Cross, den er „irgendwo auf dem Weg nach Kamerun“ lokalisiert. Er beschwört das London seiner Kindheit, der späten vierziger und frühen fünfziger Jahre, als es noch Bezugskarten, Smog und Straßenbahnen gab, nicht jedoch im Elternhaus fließendes heißes Wasser oder eine Innentoilette. Einmal die Woche wurde gebadet, in einer für diesen Zweck aus dem Garten geholten Blechwanne. „Für jeden Badenden gab es einen frischen Kessel heißes Wasser und eine frische Tasse Flüssigseife. Ich wollte immer der letzte sein, denn da bestand das Badewasser fast nur noch aus Seife.“
Es war die Zeit, die heute wie eine entschwundene Vergangenheit scheint: die Zeit, in der jeder mit einem besseren Leben für seine Kinder rechnete. „London“, begeistert sich Porter, „befand sich auf einer Spur, die besser und besser zu werden schien, die schließlich nach Swinging London und Carnaby Street führte.“
Aus dem Historiker sprudeln förmlich Spontaneität und Zorn in das Auditorium des „Royal Court Theatre“, in dessen wöchentlichen Lesestunden ansonsten Autoren wie P. D. James alten Damen ihre neuen Kriminalromane präsentieren. Diesmal ist eine nicht ganz so alte Dame in der ersten Reihe nach anfänglichem eifrigen Notizenmachen sogar eingeschlafen, aber Porter holt jetzt erst recht aus. Er erzählt vom Aufstieg der Stadt zur Weltstadt im 18. Jahrhundert, als es in London Kondome aus Schafsdarm und die ersten Schnellimbißbuden der Welt gab, und zieht einen weiten, abwärts führenden Bogen von der Faszination, die in der Vergangenheit von London ausging, bis zum Gefühl der Vernachlässigung in der Gegenwart.
Eigentlich soll Porter ja hier sein neues Buch vorstellen, mit dem er seit ein paar Wochen in England Furore macht: „London – A Social History“. Als einer der wenigen Gesamtüberblicke über die Geschichte der Metropole ist es zugleich eine Anklage gegen die „kriminellen“ Handlungen der Thatcher-Regierung in den achtziger Jahren. Das Buch hat Aufsehen erregt, sowohl freudige Zustimmung derjenigen, die den Thatcherismus nie verwunden haben, wie empörte Ablehnung seitens der Rechten. Im rechtskonservativen Spectator hat der bekannte Kolumnist Simon Jenkins das Buch kritisiert: Die Lebensqualität sei heute viel besser als früher, Schmutz und Langeweile gehörten zur Vergangenheit, die Londoner seien heute genauso stolz und zuversichtlich wie immer. Porter hat eine Replik geschrieben und diesen Hinweisen zugestimmt. „Aber“, schrieb er, „es gibt auch andere Londons: Slum-London, Arbeitslosen-London ... Ein Tourist heute kann nicht mehr sicher sein, wo die Dritte Welt beginnt.“
London ist für die Londoner ein wunder Punkt. Am 1. April 1986 schaffte Premierministerin Margaret Thatcher die Gesamt-Londoner Stadtverwaltung ersatzlos ab: Das „Greater London Council“ (GLC) unter dem populären Linkspolitiker Ken Livingstone war ihr ein Dorn im Auge. Es residierte in der prächtigen „County Hall“ auf dem Südufer der Themse gegenüber dem Parlamentsgebäude von Westminster und grüßte regelmäßig von seinem Dach mit einer großformatigen Wiedergabe der neuesten Londoner Arbeitslosenzahlen auf einem Transparent über den Fluß. Es galt ebenfalls als Hort einer undogmatischen, nicht mehr staatsfixierten Linken.
Das GLC mußte verschwinden, nach amtlicher Lesart zur Reduzierung von Bürokratie, und seither sind die Bezirke Londons auf sich allein gestellt. Eine sichtbare gemeinsame Verwaltung gibt es nicht mehr, nur noch eine unübersichtliche Masse unsichtbarer, ungewählter und in den Augen vieler auch unverantwortlicher Komitees und Arbeitskreise, die die nötigsten gesamtstädtischen Angelegenheiten der britischen Hauptstadt wahrnehmen.
Ein Gesamtinteresse vertritt niemand mehr, und das macht sich bemerkbar: London ist Nettozahler für den Rest des Landes. Allein im letzten Jahr, so hat es das unabhängige „London Research Centre“ errechnet, wurden in London acht Milliarden Pfund (20 Milliarden Mark) mehr an Steuern eingenommen als in Form öffentlicher Ausgaben in die Stadt zurückfloß. Für Porter ist 1986 das Jahr, in dem London aufhörte, eine Weltstadt zu sein.
Die Atomisierung Londons ist nicht nur in der barocken Komplexität der Amtsvorgänge zu spüren oder in der Sichtbarwerdung einer „Unterklasse“ aus sehr armen, von schrumpfenden Wohlfahrtsgeldern abhängigen Stadtnomaden. Daß wenige Schritte neben den Opern und Theatern des Westend karitative Vereine spätabends Tee an Elendsgestalten verteilen, daß in den engen Nebenstraßen Obdachlose in Pappkartons und Müllsäcken nächtigen, daran hat sich London schon fast gewöhnt. Aber auch in vornehmen, dem Glanz und Elend der Metropole scheinbar entrückten Vierteln wie Wimbledon Village, wo Ladies in traditionsreichen Kneipen sich beim Wein von den Geistern ihrer verstorbenen Katzen erzählen, wächst Unbeständigkeit: Ladenfronten sind leer, Geschäfte, die vor wenigen Monaten noch florierten, sind heute plötzlich verschwunden.
„Mein Vater baute Busse im Stadtviertel Southall“, erzählt Porter. „Wem würde es heute einfallen, in London Busse zu bauen?“ Er könnte hinzufügen: Oder sonstwo in England. Zwei Drittel aller Beschäftigten Großbritanniens arbeiten im Dienstleistungsbereich, aber Dienstleistungsjobs sind zumeist unsicher und schlecht bezahlt. Nach einer neuen Untersuchung bekommen manche Londoner Beschäftigten im halbformellen Sektor gerade mal einen Stundenlohn von einem Pfund (2,50 Mark).
Porters Prognose ist pessimistisch. „Früher, als London wuchs und wuchs, geriet es zu einer unregierten und unregierbaren Stadt, aber es wurde nie eine Stadt der Ghettos, der Massengewalt, der Verzweiflung, Anarchie und Revolution. London hatte Erfolg, weil es prosperierte.“ Heute jedoch „macht die Kombination von ökonomischem Niedergang und politischem Versagen London zu einer Stadt der Unsicherheit. Seit Jahrhunderten gab es in London nicht soviel Unsicherheit wie heute“, ruft Porter seinem Publikum zu und fordert es zur „Einmischung“ auf.
Die Reaktionen im Theater von Chelsea sind gespalten. Eine strahlende blonde junge Frau freut sich, „daß endlich mal jemand so denkt wie ich“, eine andere ruft verzweifelt: „Warum haben wir 1986 keinen Widerstand geleistet?“ Die schlafende Dame in der ersten Reihe schnarcht. Einige Plätze weiter murmelt eine betagte Lady mit grellrot geschminkten Lippen, schrägem schwarzen Hut und Stock ihrer Nachbarin in tiefen Alttönen etwas von „Naivität“ zu: „Was der über London sagt, gilt doch für fast jede große Stadt der Welt.“
Draußen in der Bar ist Porter denn auch bereit zuzugeben, daß er vor allem provozieren möchte: Natürlich sei London immer noch voller Lebensgefühl, wie es außerhalb nicht anzutreffen sei. Gerade deshalb liebe er die Stadt ja auch. „Vielleicht ist ja alles, was ich sage, romantischer Unsinn“, behauptet er und lacht. Aber zumindest, das beweist der ganze Streit um Porters Buch, nimmt London heute von seinen Romantikern Notiz. Dominic Johnson
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