: Das fundamentalistische Krankenhaus
■ Rachid Mimounis Parabel der islamistischen Machtübernahme in Algerien
Rachid Mimouni ist der in den letzten Jahren international am meisten ausgezeichnete algerische Schriftsteller. Er gehört zu den am entschiedensten gegen Islamismus und für radikale Demokratisierung eintretenden Intellektuellen. Mimouni bekam daher Morddrohungen und hat sich deshalb vor einem Jahr ins marokkanische Exil begeben. Mit der Wahl dieses Exilortes zeigt er, daß er dem ihm anhaftenden Ruf, eher der westlichen als der nordafrikanischen Kultur anzugehören, entgegentreten möchte. Obwohl er sowohl populäres als auch klassisches Arabisch beherrscht, beharrte er bislang darauf, weiter in französisch zu schreiben, weil er seine Bildung in dieser Sprache erhalten habe. Mit seinen oft wiederholten Äußerungen über die Bedeutung des Französischen hat er nicht nur die Islamisten provoziert, sondern auch die islamistischen Strömungen des offiziell ganz auf das Hocharabische ausgerichteten, in Wahrheit aber auf französisch funktionierenden FLN-Systems. Das Französische, so Mimouni, habe in Nordafrika nach der Entkolonialisierung in seiner Bedeutung als Alltagssprache nicht ab-, sondern zugenommen, deshalb sei auch seine Legitimität als Literatursprache unabweisbar. Mimounis Sprache mag darüber hinaus auch deshalb die Franzosen ansprechen, weil ihr Ton – den er sich wohl beim Studium der Organisationswissenschaften in Kanada aneignete – kühl und lapidar ist. Damit scheinen seine Werke aus der auch in Übersetzungen zumeist blumig- musikalisch wirkenden Sprache der arabischen Literatur herauszufallen. Dennoch ist es nicht gerechtfertigt, Mimounis Werk von ihr abzugrenzen. Seine Themen sind die Verletzungen, die eine überstürzt hereinbrechende Moderne den Menschen Algeriens zugefügt hat. Genauer besehen ist sein Demokratiebewußtsein keineswegs aus dem Westen „kopiert“; sein Thema ist gerade die Selbstbestimmung der Menschen über das Tempo und die Entwicklungsrichtung der Modernisierung.
Das Krankenhaus als Brennpunkt der sich bündelnden tragischen gesellschaftlichen Widersprüche war bereits die Kulisse von Mimounis Meisterwerk „Tombeza“. Schon hier wurde es nicht nur als ein Ort unglaublicher Schlamperei beschrieben – wo das arm und ungebildet gebliebene paramedizinische Personal sadistisch seine Frustrationen auslebt –, sondern auch ein Ort des Mordes, dessen sich die in den Schwarzmarkt verstrickten Vertreter der Staatsmacht als Mittel des Machterhalts bedenkenlos bedienen.
Auch in seinem nun auch auf deutsch vorliegenden neuen Roman „Der Fluch“ steht ein Krankenhaus im Mittelpunkt. Die Fabel entwickelt sich um ein reales Ereignis der jüngsten algerischen Geschichte, auf das Mimouni bereits in seinem 1993 noch in Algier publizierten antiislamistischen Pamphlet „Von der Barbarei im allgemeinen und vom Integrismus [d.h.: Islamismus; d.A.] im besonderen“ hingewiesen hatte: Als im Sommer 1991 der von den Islamisten initiierte Generalstreik abzubröckeln begann, rief die islamistische Führung zu einer tagelang währenden Besetzung der öffentlichen Plätze Algiers auf. Um für den vorhersehbaren blutigen Zusammenstoß mit den – lange zögernden – Ordnungskräften vorbereitet zu sein, besetzten sie auch das im Zentrum der Hauptstadt liegende große Krankenhaus Mustapha, in dem sofort eine Miniatur des zukünftigen Islamischen Staates errichtet wurde. Ärzte, die sich nicht als Verbündete erwiesen, wurden „entmachtet“, indem bislang frustrierte Pförtner und Hilfskräfte, aber auch neues, aus dem Nichts auftauchendes medizinisches Personal die Befehlsgewalt an sich rissen und mit grausamen Selektionsmaßnahmen Platz für die verwundeten Islamisten schufen. Ungeachtet ihres Gesundheitszustandes wurden die bislang von der kleinen Toleranz des FLN-Staates profitierenden unverheirateten jungen Mütter und ihre Neugeborenen als erste auf die Straße geworfen: Der orthodoxe Islam kennt für diese Frauen und Kinder weder Verzeihung noch Hilfe, auch wenn sie Opfer einer Vergewaltigung oder gar eines familiären Inzests gewesen sind.
Mimouni erzählt diese Vorgänge aus der Sicht des jungen Gynäkologen Kader, der versucht, die Krankenkarteien vorm Zugriff des zum Herrscher über Leben und Tod gewordenen Hilfsarbeiters zu retten, um damit den familiären Status seiner Patientinnen zu verschleiern. Dafür wird er von einem – illegalen – „islamischen Gericht“ zum Tode verurteilt. Richter und Vollstrecker des Urteils ist sein totgeglaubter, in Wirklichkeit untergetauchter Bruder Hocine. Dieser gehörte – wie viele der islamistischen Führer – keineswegs zum armen und ungebildeten Teil des Volkes, sondern war ein hoher Funktionär der Luftfahrtgesellschaft gewesen, der einer bürokratischen Intrige zum Opfer fiel und sich daraufhin denen anschloß, die den FLN-Staat am radikalsten zu bekämpfen schienen.
Um diesen Kern der Fabel ranken sich eine Fülle von Nebengeschichten, die teils die im Ausland wenig bekannten Kontinuitäten zwischen FLN-Islam und Islamismus zeigen sollen und teils unaufgearbeitete Seiten des Unabhängigkeitskrieges behandeln. Ein alter, lebensweiser Clochard, mit dem Kader schon lange befreundet ist, gibt sich schließlich als derjenige zu erkennen, der in Komplizenschaft mit anderen ehemaligen FLN-Führern seinen und Hocines Vater umgebracht hatte. Damit spielt Mimouni auf die im FLN- Staat weitgehend verschwiegenen Grausamkeiten unter Algeriern während des Unabhängigkeitskrieges an. Dieses Schweigen und die gleichzeitige Glorifizierung von „Gewalt für eine gerechte Sache“ sind in den Augen der heute in Algerien um Demokratie kämpfenden Menschen einer der Hauptgründe für ihr Wiederaufleben in den heutigen Konflikten.
Mimounis Roman „Der Fluch“, dem kürzlich der höchstdotierte französische Literaturpreis, der „Prix de la levante“, zuerkannt wurde, ist nichtsdestotrotz ein im Grunde einfach gestrickter Thesen- oder Tendenzroman. Er bleibt hinter vielen Werken des Autors in so erstaunlichem Maße zurück, daß sich mir der Verdacht aufdrängt, ihm habe nicht Kunstwillen, sondern eine nur schwer gebändigte Lebensangst die Feder geführt. Wenn hiermit auch keineswegs bereits der große Roman über den Islamismus vorliegt, so lohnt sich die Lektüre für die am dramatischen Schicksal der nordafrikanischen Länder interessierte Leserschaft jedoch allemal. Sabine Kebir
Rachid Mimouni: „Der Fluch“. Roman. Aus dem Französischen von Karin Rick. Vorwort von Regina Keil. 223 Seiten, 44 DM.
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