: Aufweichung des Tötungstabus -betr.: "Art von Fundamentalismus", taz vom 15.12.94
Betr.: „Art von Fundamentalismus“, taz vom 15.12.
Es ist bezeichnend für die bisherigen Erfahrungen mit der ,,TAZ“ in der „Ethik-Debatte“, daß ein Mediziner interviewt wird, um zu erfragen, warum Behindertenorganisationen Bedenken gegen den Film „Tod auf Verlangen“ geäußert haben. Der unkommentierte Abdruck der Werbung für Peter Singers/Helga Kuhses Buch „Should the baby live“, die Rezensionen hierzu haben deutlich gemacht, daß durchaus rationale Befürchtungen gegenüber Bestrebungen, außersubjektive Kriterien für Personalität zu finden und Recht auf Leben von der Erfüllung dieser Kriterien abhängig zu machen, nicht nach- vollzogen werden können.
Warum wird eine Rechtfertigung von denen verlangt, die keinen Diskussionsbedarf über eine „neue Ethik“, über eine Lockerung des Verbots der aktiven Sterbehilfe haben? Wir finden es notwendiger, danach zu fragen, wer Interesse an einer Änderung der (noch) bestehenden Ethik und der (noch) geltenden gesetzlichen Regelungen hat. Daß es genau um die Aufweichung des Tötungstabus und nicht um den einzelnen Betroffenen geht, wurde in dem Film „Tod auf Verlangen“ und der anschließenden Fernseh-Diskussion deutlich. Es war nicht von Interesse, darüber zu reden,
–warum die Tötung als einzige Alternative, als zwangsläufiges Ergebnis der Behinderung dargestellt wird,
–welche anderen Lösungen gefunden werden können, eine als nicht erträglich empfundene Lebenssituation zu verbessern, Krankheitsverläufe anders zu gestalten, und damit nach den Ursachen des Verlangens nach Tötung zu fragen
– daß Schmerzen nach dem Stand der Schmerztherapie nicht mehr sein müssen und als Argument für die Tötung („Erlösen von Leiden“) entfallen,
–welche Unterstützung dem Betroffenen und den Angehörigen zuteil werden könnte, die den Tötungswunsch nicht erst aufkommen lassen würde, ihn nicht allein zu lassen mit allen Schwierigkeiten und Ängsten,
–daß durch veränderte Normen für Betroffene ein Erwartungsdruck entstehen kann, der ihn von „Zumutung“ für Dritte sprechen läßt, das Gefühl entstehen läßt,, sich im Falle von Ablehnung aktiver Sterbehilfe rechtfertigen zu müssen,
–wie es kommt, daß Selbstbestimmung dann besonders ernst genommen wird, wenn es um die endgültige Beendigung derselben geht und nicht darum, Selbstbestimmung im Leben zu ermöglichen.
Aus der Geschichte ist bekannt, daß die Legalisierung aktiver Sterbehilfe mit der Begründung der Selbstbestimmung immer das Einfallstor war für „Euthanasie“ derjenigen, die ihre Selbstbestimmung vermeintlich nicht mehr bzw. nur noch eingeschränkt wahrnehmen können. Immer geht die Debatte einher mit der Einteilung in „lebenswertes- und „lebensunwertes“ Leben. Wer die aufgestellten Kriterien nicht mehr erfüllt, muß in Kauf nehmen, daß Dritte für ihn entscheiden. Die Aufwärmung dieser Diskussion wurde mit der „Praktischen Ethik“ von Peter Singer eingeleitet. Wer kann das zeitliche Zusammentreffen mit den Kürzungen in Sozial- und Gesundheits-politik und den dort immer öfter zu hörenden Fragen, wann und für wen sich Maßnahmen „lohnen“ und für wen nicht, ernsthaft für Zufall halten?
Es geht bei der „Sterbehilfe-Debatte“ nicht wirklich um das Wohl Einzelner, sondern darum, den Boden für die Übernahme anderer gesetzlicher Regelungen nach niederländischem Vorbild zu bereiten. Dazu wird notfalls auch das Schicksal eines einzelnen Menschen instrumentalisiert, er zum „Fall“ gemacht. Wenigstens die ständig steigende Zahl gemeldeter Fälle aktiver Sterbehilfe in den Niederlanden seit Inkrafttreten des Sterbehilfegesetzes sollte zu denken geben.
Wer die Befürchtungen, die auf dem Hintergrund dieser Zusammenhänge zu sehen sind, für irrational, für „fundamentalistisch“ hält, der mag das tun.
Doris Galda für:
LAG „Hilfe für Behinderte“ Bremen e.V.. Selbstbestimmt Leben e.V., Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung, LV Bremen e.V., Assistenzgenossenschaft Bremen
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