: Unsere liebe Frau
Die tausend Gesichter der Maria: Zur wechselvollen Geschichte der Madonnenverehrung – nicht nur im Mittelalter ■ Von Rebekka Habermas
Als zu Beginn der achtziger Jahre die Danziger Werftarbeiter in Streik traten, blickten viele verwundert nach Polen. Nicht allein die bloße Tatsache, daß Streiks in einem Ostblockland möglich sind, überraschte; Erstaunen und bei vielen gar Befremden riefen auch die Streikformen hervor: Auf dem mit Marienbildern geschmückten Streikgelände wurden Gottesdienste abgehalten und die Arbeiter beichteten öffentlich; ganze Abordnungen von Solidarność pilgerten zur schwarzen Madonna nach Tschenstochau, und der Gewerkschaftsführer Lech Walesa rühmte sich, einer der größten Marienverehrer zu sein.
Befremdlich muß die Allgegenwart Mariens freilich nur für jene wirken, die vergessen hatten, daß Maria nicht nur die teuflische Ausgeburt einer unterdrückerischen, frauenfeindlichen, mit sicherem Machtinstinkt und viel zuviel Geld ausgestatteten Amtskirche ist, sondern überdies die Mutter, die Barmherzige, die Intellektuelle, die Siegreiche, die himmlische Königin, die Patronin der Bürger, die Sterbende, die Helfende und Tröstende und die Schöne und Liebende.
Vergessen wurde und wird, wie viele Gesichter Maria hat. Maria nämlich hat ebenso viele Gesichter wie ihre VerehrerInnen Anliegen oder anders ausgedrückt: Maria war stets Ausdruck und auch Spiegel unterschiedlichster Bedürfnisse.
Und genau diese Vielfalt, festgehalten auf Hunderten von Zeichnungen, Gemälden, Andachtstafeln, Votivbildern, Münzen, in Stein gehauenen Reliefs und Statuen, vermag die beeindruckende Gesamtschau „Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin“ des Bielefelder Historikers Klaus Schreiner zu zeigen. Gleichzeitig gelingt es Schreiner auf der Grundlage unzähliger theologischer Erörterungen über die zentralen Fragen des marianischen Daseins – las oder spann sie, als der Engel kam? wie alt war Joseph bei Jesu Geburt? empfing sie durch das Ohr? gebar sie ohne Schmerzen? konnte Maria lachen, lesen und schreiben? – und entlang von Viten und Exempla, Schauspielen und Dichtungen, einfühlsam und mit Respekt vor vergangenen Lebensentwürfen den VerehrerInnen und ihren Anliegen auf die Spur zu kommen.
Und in der Tat: Maria hat, wie dichte Beschreibungen auf über 500 Seiten verdeutlichen, viele Gesichter. Maria ist, um wenigstens einige der von Schreiner in zwölf Kapiteln untersuchten mittelalterlichen Gestalten Marias näher zu beleuchten, die gefühlvolle, empfindsame und zärtliche Mutter, die anmutige und schöne Frau. Fast erotisch möchte man – zumindest aus heutiger Perspektive – einige der schönsten Mariendarstellungen des Mittelalters nennen. Erinnert sei nur an die zahlreichen Bilder, auf denen Maria mit entblößter Brust zu sehen ist, oder an die Dichtungen des Spätmittelalters, wo aus Marienverehrung Marienminne wird.
Im Mittelalter freilich sagte man – um gleich auf einen weiteren marianischen Charakterzug zu sprechen zu kommen – Marias Brüsten weniger erotische als heilspendende Kräfte nach: Ihre Milch wirkte zahlreiche Wunder wie etwa jenes an einem ungläubigen Sarazenen, der voll Erstaunen erleben konnte, wie aus einem Marienbilde Brüste herauswuchsen, die schließlich auch Milch spendeten. Überdies galten die marianischen Brüste als Quellen theologischen Wissens und göttlicher Weisheit.
Heinrich von Clairvaux bat Maria um Kraft zum intellektuell wohl recht anstrengenden Predigtschreiben. Und siehe da: Die Jungfrau erschien ihm leibhaftig und bot ihm ihre heiligen Brüste dar. Aus ihnen sog er soviel theologische Weisheit, daß er schließlich nicht nur mit dem Abfassen der Predigten zu Rande kam, sondern gar zum Kardinal ernannt wurde.
Eine weitere Facette des marianischen Charakters ist ihre aus heutiger Perspektive eher überraschende Intellektualität: Nicht nur Botticelli malte sie mit Feder und Buch, vielen galt sie als Inbegriff einer lesehungrigen und gebildeten Frau. Manche glaubten gar, sie hätte die Apostel über das Geheimnis der Inkarnation belehrt. Selbstverständlich ging man davon aus, daß sie es war, die Jesus in die Schule brachte beziehungsweise eigenhändig unterrichtete, und ihr zu Ehren wurden Universitätskirchen geweiht.
Und doch: Obwohl sie nicht nur von Albert dem Großen als Kennerin des Zivil- wie des Kirchenrechts gepriesen wurde und Pseudo-Albertus gar behauptete, Maria hätte die Geheimnisse der Heiligen Schrift vollständig erfaßt, mußte sie auch dafür herhalten, daß Frauen der Zugang zu Universitäten und zur Kanzel verwehrt blieb.
Andere Eigenschaften wurden ihr als Stadtpatronin nachgesagt. Bürgerschaften ganzer Städte – genannt seien hier nur Siena und Straßburg – vertrauten ihr Schicksal Maria an, hielten ihr zu Ehren an hohen Marienfeiertagen Prozessionen ab, erwiesen ihr alle Ehren und erhofften im Gegenzug, daß sie in Kriegsgefahr oder bei drohender Pest, aber auch bei innerem Unfrieden zu Hilfe eilen würde. Den Bürgern von Siena beispielsweise verhalf Maria nicht zuletzt im Kampf gegen Florenz zu städtischer Autonomie. Jahrhunderte später unterstützte sie antijakobinische Aufständische, die unter lautem Schlachtengetöse – „Es lebe Maria und Tod den Jakobinern“ – durch Sienas Straßen zogen. Im Zweiten Weltkrieg schließlich erneuerte die Stadt ihren Bund mit Maria, in der Hoffnung durch sie vor Luftangriffen geschützt zu werden.
Eine nicht minder erfolgreiche, freilich weniger friedliche Wirkung entfaltete die Jungfrau im Krieg. Kein bayerischer Feldherr ward je ohne marianische Fahne auf dem Schlachtfeld gesehen, und zahlreiche Siege wurden allein dem Eingreifen der Muttergottes zugeschrieben. Mariens Kriegserfolge waren so groß, daß sich – will man einer von Billy Wilder gern erzählten Anekdote Glauben schenken – das österreichische Militär noch im Ersten Weltkrieg überlegt haben soll, ob es sich nicht die vermeintlich siegesentscheidende Erfindung einer künstlichen Maria zu Nutzen machen sollte. Den Militärs war nämlich angeboten worden, Großaufnahmen einer schönen blonden Frau mit Heiligenschein mittels ominöser cinematographischer Techniken am Himmel erscheinen zu lassen. Selbige sollte gebieterische Zeichen vollführen, die dem Feind eindeutig signalisieren, daß Maria auf seiten Österreichs kämpft, und ihn damit in die Flucht schlagen.
Nicht nur im Krieg, auch in den christlich-jüdischen Kontroversen des Mittelalters betonte sie eher das Trennende als das Verbindende. In vielen mittelalterlichen Marienklagen finden sich deutlich antisemitische Untertöne, wird die Kreuzigung Jesu zum Anlaß genommen, die Überlegenheit des Christentums heraufzubeschwören. Zahlreiche Legenden, die sich um einen von Maria zur Konversion verleiteten Judenknaben spinnen, der zur Strafe vom eigenen Vater aufs grausamste verbrannt wird, sollen die Brutalität des Judentums beweisen. Und auch die vielerorten zu Marienkirchen verwandelten Synagogen sind deutliche Zeichen einer Kampfansage und kaum als marianische Gesten der Versöhnung zu verstehen.
Versöhnend wiederum wirkt sie im Angesicht des Todes. Hatte sich die Urkirche noch keine Gedanken über Marias Tod gemacht, so entstanden im Frühmittelalter zahlreiche Abhandlungen, die ihre letzten drei Lebenstage bis ins kleinste Detail ausleuchteten und zu zeigen vermochten, daß sie auch im Angesicht des Todes vorbildhaft war. Maria nämlich starb, vorgewarnt durch einen Engel, aufs beste vorbereitet, inmitten der von ihr herbeigerufenen Apostel ohne Furcht, Schmerz und Trauer. Es war gerade dieser gefaßte und ruhige Tod, der es ihr erlaubte, Sterbenden eine hilfreiche Trösterin zu sein, ihnen Erlösung zu versprechen und Hoffnung zu geben.
Klaus Schreiners Tour de force durch Kunst-, Kirchen-, Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte stellt die Vielschichtigkeit, die diese Symbolfigur im Mittelalter entfaltet, und die Veränderungen, die die VerehrerInnen an ihr vornehmen, in den Mittelpunkt, und entgeht damit der Gefahr, Maria entweder vorschnell auf die Seite einer vermeintlich frauenfeindlichen, geldgierigen und herrschsüchtigen Amtskirche zu schlagen oder sie nicht minder undifferenziert zur Heldin eigensinniger volkstümlicher Revolten zu stilisieren. Mehr noch: „Maria. Jungfrau. Mutter. Herrscherin“ ist überdies eine Geschichte des mittelalterlichen Denk-, Gefühls- und Vorstellungshaushaltes und gleichsam ein eindrückliches Plädoyer für eine Geschichtsschreibung, die behutsam zu verstehen sucht, anstatt vorschnell zu verurteilen.
Und last but not least vermag Schreiner auch plausibel zu machen, warum die Danziger Werftarbeiter die schwarze Madonna von Tschenstochau um Hilfe baten. War sie es nicht gewesen, die zur Zeit der Teilung, die Einheit Polens garantiert hat, die während des Nationalsozialismus die „geistige Hauptstadt eines Volkes ohne Staat“ war und die schließlich nach dem Krieg zum Symbol von Unabhängigkeit, Widerstand und auch Hoffnung wurde?
Klaus Schreiner: „Maria. Jungfrau, Mutter, Herrscherin“. Hanser Verlag, 592 Seiten, 78 DM.
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