: Weihnachten gibt es nicht
■ Irgendwie eine Weihnachtsgeschichte Von Dirk Knipphals
Unsere kleine Geschichte könnte überall spielen. Hauptsache, sie spielt in einer schönen Stadt mit Kneipen, in denen man rund um die Uhr Bier und Korn trinken kann. Und Touristen muß es in dieser Stadt geben, und einige dieser Touristen müssen ab und an so viel Bier und Korn getrunken haben, daß sie betrunken genug sind, um ihre Brieftasche zu verlieren.
Wenn wir es uns also recht überlegen, könnte unsere Geschichte wohl doch nur an einem Ort spielen: auf St. Pauli. Dafür ist der Zeitpunkt, an dem unsere Geschichte spielt, wirklich egal. Es darf nur nicht Weihnachten sein. Denn in unserer Geschichte wird behauptet, Weihnachten gibt es gar nicht; und eine Geschichte, in der das behauptet wird, kann ja wohl schlecht ausgerechnet an Weihnachten spielen.
„Hey, Kuno, schmeiß die raus, die nervt. Nein wirklich, du nervst, verfluchte Scheiße. Such dir doch mal jemand anders zum Schnorren. Bin ja nun wirklich ein umgänglicher Mensch, aber...“ Könnte eine Geschichte, die so anfängt, an Weihnachten spielen? Unsere Geschichte fängt aber so an, wir können es nicht ändern. Womit also wohl endgültig geklärt sein müßte, daß sie keine Weihnachtsgeschichte ist.
„...aber jetzt reicht's wirklich“, vollendete Schorsch seinen Satz. Und Walter stimmte ein: „Ja, genau, säuft wie 'n Loch und will nichts bezahlen. Wir sind doch nicht bei der Heilsarmee.“ Und auch Siegfried schlug in die gleiche Kerbe: „Drei Bier und drei Korn hab' ich der heute schon ausgegeben. Das reicht ja wohl.“ Und Siegfrieds Hund Rex, den aber alle, nachdem sie eine Sendung über Las Vegas im Fernsehen gesehen hatten, nur Roy nannten, weil er entfernt der Miniaturausgabe eines weißen Tigers ähnelte, fing an zu bellen.
Dann war es wieder ruhig in der Kneipe. Da auch sein Herrchen nichts mehr sagte, legte sich auch Roy wieder hin. Nur das monotone Gedudel aus dem Geldspielautomaten war zu hören. Aus der Musikbox konnte ja nichts kommen, denn Kuno, der Wirt, hatte den Stecker rausgezogen. Für seinen Geschmack hatten zu viele Gäste in letzter Zeit zu oft Lieder wie „Jingle Bells“ oder „White Christmas“ gedrückt.
Dieser kurze Emotionsausbruch der Kneipengäste galt Vera, einer der ziemlich genau vier Stammgäste der Kneipe. Unwillkürlich hatte Vera den Kopf eingezogen. Aber schon bald fing sie wieder an, sich sicher zu fühlen, schließlich war so etwas schon häufiger vorgekommen. Vera wollte sogar schon anfangen, ein bißchen zurückzukeifen, wie es manchmal ihre Art war, doch aus einer instinktiven Vorsicht heraus blinzelte sie aus den Augenwinkeln zu Kuno hin. Kuno hatte von seiner Zeitung aufgeblickt. Da ließ Vera das Keifen doch lieber bleiben, sicher ist sicher. Denn oft blickte Kuno nicht von seiner Zeitung auf. „War ja nur 'ne Frage“, murmelte sie, „wird ja wohl noch mal fragen dürfen.“
Wieder war nur das Gedudel aus dem Automaten zu hören. Kuno wandte sich wieder der Zeitung zu, die er jetzt schon dreimal durchgelesen hatte. Doch was sollte Vera auch machen? Sie hatte eben Durst. Und nach kurzer Überlegung fragte sie: „Sag mal, Kuno, kannst du mir nicht noch einmal Bier und 'n Korn anschreiben, nur noch dieses eine Mal, du kriegst das auch garantiert wieder, Ehrenwort.“
Kuno sah ein zweites Mal von seiner Zeitung auf. „Anschreiben ist nicht“, erklärte er noch höflich, „hast du Geld, kriegst du Bier, hast du kein Geld, kriegst du kein Bier und Korn schon gar nicht.“
„Nur 'ne Frage“, nuschelte Vera, doch Kuno war noch nicht fertig: „Und wenn du kein Bier hast, dann hast du auch in meiner Gaststätte nichts zu suchen.“
Bei den letzten Wörtern war Kuno schon bedenklich laut geworden, doch Vera verstand den Ernst der Lage noch immer nicht recht. Sie machte einen letzten Versuch: „Wo doch heute Weihnachten ist.“
Das hätte Vera nicht sagen sollen. Denn jetzt faltete Kuno die Zeitung sorgfältig zusammen, legte sie fast liebevoll auf den Tresen und sah dann Vera an. Er war jetzt wirklich wütend. „Wenn du Geld hast, ist Weihnachten; wenn du kein Geld hast, ist kein Weihnachten, dann ist noch nicht mal Nikolaus. Dann ist nämlich Feierabend für dich, verstehst du?“ Vera beeilte sich zu sagen: „Schon gut, schon gut, ich frag' auch nie wieder, ehrlich nicht.“ Doch jetzt war es zu spät.
„Na, was willst du denn jetzt trinken?“ fragte Kuno, „einfach nur Aufwärmen gibt's bei mir nicht. Na, zeig doch mal dein Geld, Vera.“
„Ich, ich...“
„Du hast nämlich gar kein Geld. Darum dreht sich nämlich alles. Also, ich möchte Sie hiermit höflich bitten, unser Etablissement zu verlassen, Gnädigste.“
Wenn Kuno die Gäste zu siezen begann, war Schluß mit lustig. Vera versuchte, sich ganz klein zu machen. „Was ist dem denn für eine Laus über die Leber gelaufen“, murmelte sie nur und stubste Schorsch in die Seite.
Doch Schorsch stimmte Kuno zu. „Genau, schmeiß sie raus.“ Und Walter sagte: „Gnädigste, das ist gut, Gnädigste, das ist lustig, vielleicht will sie noch einen Handkuß.“ Nur Siegfried hatte einen Moment nicht aufgepaßt und sagte deshalb erst mal lieber nichts, weshalb auch Roy sich still verhielt.
Vera lächelte jetzt unbestimmt in verschiedene Richtungen, doch Kuno hatte sich hinter dem Tresen vor ihr aufgebaut und zeigte mit ausgestrecktem Arm in Richtung Tür.
Vera sagte: „Aber ich hab' doch nur...“
Doch Kuno sagte einfach: „Raus.“
„Aber wo doch Weihnachten ist“, beklagte sich Vera noch etwas kleinlaut. „Weihnachten gibt's nicht“, knurrte Kuno, kam hinter seinem Tresen hervor und – schob Vera unter der johlenden Zustimmung der anderen ohne weitere Umstände vor die Kneipentür.
„So“, sagte Kuno und ging, sich in die Hände klatschend, in die Kneipe zurück.
Alles war so schnell gegangen, daß Vera gar nicht wußte, wie ihr geschah. Eben gerade war sie noch in der Kneipe gewesen. Und jetzt befand sie sich plötzlich auf dem Bürgersteig. Da offensichtlich nichts mehr zu verlieren war, pöbelte sie erst mal hinter Kuno her. „Du kannst mich mal mit deiner blöden Kneipe“, sagte Vera, „werde schon noch was zu trinken kriegen an so einem Tag.“ Dann machte sie aber doch noch zwei zaghafte Schritte auf die Kneipentür zu, doch Kuno hatte sie durch einen Spalt in der Gardine beobachtet, riß die Tür von innen auf und drohte ihr mit der Faust. Vera machte schnell einige Schritte rückwärts.
Dann sah sie die Tür ins Schloß fallen. Erst danach sah sie sich zögernd um.
Es war inzwischen spät geworden, das bißchen Tageslicht, das der ständige Nieselregen durchgelassen hatte, wurde bereits schmutzig und grau. Bald wird es ganz verschwunden sein. Auf der großen Straße fuhren die Autos vielleicht noch ein bißchen hastiger als sonst. Und die Bürgersteige entlang der großen Straße waren voll wie eigentlich immer. Einige Betrunkene hatten rote Zipfelmützen auf.
„Ach, scheiß drauf, geh' ich eben in 'n ,Handschuh'“, murmelte Vera und setzte sich langsam in Marsch.
Begleiten wir kurz Veras Weg die große Straße entlang, während dem sie vielen Menschen begegnete, von denen sie aber niemanden kannte. Überlegen wir uns, was jetzt alles passieren könnte. Nun, am wahrscheinlichsten ist, daß nichts passiert. Bisher jedenfalls war Vera auf diesem Weg, den sie nicht das erste Mal zurücklegte, nie etwas passiert. Es könnte aber auch...
Halt. Stopp. Vera sah etwas. Aber das konnte doch nicht sein. Das würde doch jemand sehen, das wäre ja zu schön, um wahr... Es war wahr. Mit eiligen kurzen Schritten trippelte Vera überraschend behende plötzlich etwa drei Meter vorwärts und stellte ihren linken Fuß auf die Brieftasche, die sie auf dem Boden liegen gesehen hatte. „Schönen guten Tag auch“, blaffte sie, auf der Brieftasche stehend, einen Passanten an, um möglichst unauffällig zu wirken, „schönes Wetter heute.“ Der Passant war so verblüfft, daß er einen Ausfallschritt nach rechts machte. „Fröhliche Weihnachten“, grinste Vera ihn an. „Fröhliche Weihnachten“, murmelte der Passant zurück. „Weihnachten gibt es nicht“, flötete Vera, weshalb der Passant sich endgültig über sie wunderte.
Als sie einigermaßen sicher war, daß niemand sie ansah, bückte sich Vera, hob die Brieftasche auf und steckte sie schnell unter ihre Jacke. Ohne nach rechts oder links zu blicken, ging sie zu einem Fast-food-Restaurant, ließ sich die Tür zum Klo öffnen und schloß sich in einer Kabine ein.
In ihrem Kopf hämmerte es, als sie die Brieftasche hervorzog. Sie enthielt 921,50 Mark. Vera mußte unwillkürlich hell auflachen. Dann zog sie den Personalausweis aus der Brieftasche und sah sich das Foto an. Ein freundlicher Mitvierziger mit Schnurrbart lächelte ihr entgegen. „So sieht also der Weihnachtsmann aus“, dachte Vera. Für einen Moment war sie gerührt. Duft von Plätzchen stieg ihr in die Nase, und ihr war, als sähe sie das Licht von Kerzen, und irgendwo war da auch diese Musik... Dann ließ sie den Ausweis ins Klobecken fallen. Aber eine Saite in ihr war zum Klingen gekommen, zunächst mal beschloß sie, sich selbst ein Geschenk zu machen. Sie nahm das Geld, schmiß die Brieftasche dem Ausweis hinterher, zog ab, verließ das Klo und betrat wenig später, während sie das Geldbündel in ihrer Hosentasche ganz fest hielt, eins der offenen Geschäfte an der großen Straße.
Nur wenige hundert Meter entfernt torkelte in diesem Moment ein harmloser Tourist aus dem Sauerländischen in die Kneipe, in der unsere Geschichte begann. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Ihn drückte die Blase. Nun entsprach das, was er da sah, nicht gerade dem Hygienestandard, den er gewohnt war, bevor seine Frau ihn verlassen hatte, aber es galt nun mal Prioritäten zu setzen.
Tapfer ging der Tourist auf den Tresen zu, an dem drei mittelalte Herren mit verschiedenen Stadien der Glatzenbildung saßen, bestellte, um Haltung bemüht, ein Bier und fragte: „Wo kann ich hier mal...“ Der Wirt zeigte, ohne von seiner Zeitung aufzublicken, in eine Richtung, der unser Tourist auch folgte. Als er erleichtert zurückkehrte, stand ein Bier auf dem Tresen, und da die Sauerländer von sich behaupten, selten etwas umkommen zu lassen, setzte sich unser Tourist auf einen Hocker, um das Bier auch zu trinken.
Die Szene, deren Zeuge unser braver sauerländische Tourist dann wurde, wird er übrigens in seinen späteren Erzählungen, nachdem seine Frau zu ihm zurückgekehrt war, stets mit den Worten einleiten: „Es war dies Jahr halt mal ein besonderes Fest, als ich damals nicht zu Haus, sondern in dieser muffigen Kneipe...“
Und was er sah, war folgendes: „Hallo, Jungs.“ Mit diesen mehr heraustrompeteten als einfach nur gerufenen Worten war plötzlich, wie aus heiterem Himmel, eine Frau in die Kneipe gestürmt. Auffällig an ihr war vor allem die rote, reich bestickte Lederjacke mit Indianerfransen gewesen, die sie trug, auffällig deshalb, weil es das einzige Kleidungsstück zu sein schien, das die Frau innerhalb der letzten 20 Jahre gekauft hatte. Die Frau trug sorgfältig in Papier eingewickelte Imbißpakete, und bevor irgendeiner der Gäste sich auch nur rühren konnte, war sie mit ihnen zum Tresen getänzelt, hatte gerufen: „So, jetzt wird erst mal gegessen“ und hatte jedem Gast ein Paket vor die Nase gestellt, auch der kleine weiße Hund hatte eins bekommen, gebrühte Riesenknacker, nur er, der Tourist, sei leer ausgegangen, doch dafür, so der Tourist später, habe sich die Frau umständlich entschuldigt.
Der Wirt hatte die ganze Zeit mit zunehmend verblüfftem Gesichtsausdruck von seiner Zeitung aufgesehen, und noch mehr gestaunt hatte er, als die Frau mit triumphierender Geste einen neuen Hundertmarkschein auf den Tresen knallte und zu ihm sagte: „Na, Kleiner, ist was? Nun gib uns mal allen einen zu trinken, oder sollen wir verdursten an so einem Tag? Und dann zeig mir mal meinen Zettel, sollst ja auch nicht leben wie 'n Hund.“
Was der Tourist in der Folgezeit wahrnahm, entsprach voll und ganz den Vorstellungen, die er sich vom Leben in dieser Gegend gemacht hatte. Nichts für ihn auf Dauer, aber doch immerhin recht lebenslustig. Es wurde gegessen, es wurde getrunken, eine Runde Bier und Korn nach der nächsten gab die Frau aus, die sich dem Touristen bald als Vera vorstellte, und überhaupt ging es hoch her in der Kneipe.
„Weißt du was, Vera, alte Schabracke, du bist echt in Ordnung, weißt du das“, sagte irgendwann der eine Gast und machte Anstalten, seine Arme um Vera zu legen. Doch der zweite Gast kam ihm zuvor, faßte Vera am Arm und sagte: „Ich wußte es ja immer, in dir steckt echt ein wahrer Kern, ne wirklich, ein wahrer Kern.“ Und der dritte Gast sagte zum Wirt: „Mensch, Kuno, los, jetzt schmeiß man diese blöde Musikbox wieder an. ,Jingle Bells' drückt auch keiner, hoch und heilig versprochen.“
So wurde bald auch noch getanzt. Zur Überraschung aller stellte sich heraus, daß unser Tourist einen ganz passablen Bossanova-Tänzer abgab, was er mit einigen gewagten Schritten zusammen mit Vera unter Beweis stellte. So wurde es dann doch noch für alle ein schöner Abend.
Stunden später rief Schorsch oder Walter oder Siegfried, wer, ist ja letztendlich auch egal: „Los, wir trinken noch einen.“ Und Vera nickte: „Aber sicher“ und griff sich in die Tasche. Aber sie fand kein Geld mehr, sie hatte alles ausgegeben. Ein wenig ratlos sahen sie sich an.
Das war der Moment, in dem Kuno, der Wirt, es für gekommen hielt, sein großes, prall gefülltes Kellner-Portemonnaie wegzuschließen. Er drehte den Schlüssel im Schloß der einzigen einbruchsicheren Schublade, zog ihn ab und verstaute ihn ganz tief in seiner linken Hosentasche. Kurz überschlug er, was er eingenommen hatte. Dann lächelte er jeden der Anwesenden zufrieden an, zuerst Schorsch, dann Walter, dann Siegfried, dann Vera und zum Schluß sogar noch den harmlosen Passanten aus dem Sauerland, der aber inzwischen eingeschlafen war. „Was trinkt ihr?“ fragte Kuno dann mit großer Geste, „die nächste Runde geht auf mich.“
Da freuten sich natürlich alle. „Mensch Kuno, alter Kumpel“, rief Schorsch. Und Walter sagte: „Bier und Korn, was sonst.“ Und Siegfried sagte: „Das ist ja wie Weihnachten.“ Und während Roy noch kurz bellte, stutzten die anderen einen Moment. Und in die so entstandene Stille sagte Vera: „Weihnachten gibt es nicht.“ Gegen ihr feines Lächeln konnte sich das Lachen der anderen nicht behaupten.
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