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In die feministische Ecke gedrängt

Debatte um den „Mißbrauch des Mißbrauchs“ zeigt Wirkung: Kritisierte Beratungsstellen erhalten weniger Fälle zugewiesen / Sexuell mißbrauchte Kinder treten in den Hintergrund  ■ Von Julia Naumann

Alle tun so, als gäbe es kein Problem. „Wir haben mit ,Wildwasser‘ schon immer kooperiert“, sagt der Wilmersdorfer Jugendstadtrat Peter Siele. Die Zusammenarbeit sei „gleichberechtigt“. Und das habe sich auch nicht geändert, seitdem die Beratungsstelle für sexuell mißbrauchte Mädchen in den Medien und auf Kongressen von der Historikerin Katharina Rutschky und dem ehemaligen Rektor der Fachhochschule für Sozialarbeit, Reinhart Wolff, heftig kritisiert wird. Doch die Arbeit von „Wildwasser“ wurde vom Wilmersdorfer Jugendamt 1994 nicht ein einziges Mal in Anspruch genommen. Laut Siele lagen dem Jugendamt „keine Fälle von Mißbrauch“ vor.

Auch im Bezirksamt Mitte gibt es nach Angaben des Amtsleiters der Familienfürsorge, Peter Schulz, nur „wenige Fälle“. Doch bei diesen sei die Zusammenarbeit mit „Wildwasser“ sehr gut.

Bei einem Mißbrauchsverdacht werde im Neuköllner sozialpädagogischen Dienst jetzt zwar „genauer hingeschaut“ und „sorgfältiger abgewogen“ als noch vor einigen Jahren, aber an der guten Zusammenarbeit mit „Wildwasser“ habe sich, so der stellvertretende Neuköllner Amtsleiter Josef Schreiner, „nichts geändert“.

Für die Mitarbeiterinnen von „Wildwasser“ sieht die Realität jedoch ganz anders aus. Mädchen, die bei ihnen beraten wurden, gelten mittlerweile als weniger glaubwürdig, hat Dorothea Zimmermann erfahren; sie arbeitet seit fünf Jahren bei dieser Beratungsstelle. „Wildwasser“ ist von ihren Kritikern vorgeworfen worden, mit unseriösen, viel zu hohen Zahlen zum sexuellen Mißbrauch von Kindern zu hantieren sowie Sexualfeindlichkeit zu propagieren und Hysterie zu schüren. „,Wildwasser‘ hat jetzt den Ruf weg, daß in ihrer Beratung den Mädchen prinzipiell alles geglaubt wird.“ Mitarbeiterinnen der Jugendämter, die mit der Beratungsstelle weiterhin zusammenarbeiten, würden häufig in eine „feministische Ecke“ gedrängt, ihre Professionalität werde angezweifelt. Bestätigen wollte dies allerdings keine der Mitarbeiterinnen. Aus Angst vor Konsequenzen, vermutet man bei „Wildwasser“.

Dorothea Zimmermann glaubt, daß auch die VertreterInnen der Jugendämter aus „Angst vor einer Einordnung in die polarisierte Diskussion“ die verschlechterte Zusammenarbeit mit „Wildwasser“ nie öffentlich zugeben würden. Die Anzahl der von den Ämtern vermittelten Mädchen an die Zufluchtswohnungen der Beratungsstelle zeige die Zurückhaltung aber ganz deutlich. In diesem Jahr sind von den 21 betreuten Mädchen nur 4 von den Jugendämtern oder dem Jugendnotdienst geschickt worden. In den vergangenen Jahren waren es stets rund 60 Prozent aller Mädchen.

Das neu eingezogene Mißtrauen bekommen am deutlichsten die betroffenen Mädchen zu spüren. „Sie müssen jetzt viel mehr bringen“, sagt Dorothea Zimmermann. Wenn sie einer Lehrerin oder Erzieherin Mißbrauchserlebnisse anvertrauten, reiche es häufig nicht mehr aus, vom Vater „nur“ angefaßt worden zu sein. Mädchen werden gezwungen, so Zimmermanns Erfahrung der vergangenen zwei Jahre, in der Schule oder den Ämtern mehr „aufzudecken“, als sie erst einmal verkraften können. Oft werde ihnen nicht mehr geglaubt.

Aber nicht nur für betroffene Mädchen hat die Kampagne des „Mißbrauchs mit dem Mißbrauch“ Auswirkungen, sondern auch für diejenigen, die sich mit dem Thema weiterhin kritisch auseinandersetzen wollen. Nach der Teilnahme an „Wildwasser“-Fortbildungsseminaren würden Erzieherinnen und Lehrerinnen in Kitas und Schulen regelrecht diffamiert. Ihnen werde, so die Erfahrungen von Dorothea Zimmermann, häufig nicht mehr geglaubt, wenn sie einen Mißbrauch aufdeckten. Anderen werde von der Schulleitung „Hysterie“, „Suggestion“ oder ein „krampfhaftes Suchen nach einem neuen Fall“ vorgeworfen.

Ähnliche Eindrücke hat auch Ursula Glatz gesammelt. Sie ist Koordinatorin der „Fachrunde gegen sexuellen Mißbrauch von Kindern in Kreuzberg“ und arbeitet seit 1987 mit VertreterInnen von Kitas, Schulen, Ämtern, Projekten, aber auch mit der Polizei zusammen. Die Angriffe von Rutschky und Wolff und anderen Mißbrauchs-Kritikern hätten für Kinder und HelferInnen nicht nur von „Wildwasser“, sondern auch von KIZ (Kind im Zentrum) und anderen Beratungsstellen „schlimme Konsequenzen“.

Während ihrer langjährigen Arbeit als Koordinatorin sind ihr bei den Spezialberatungsstellen keine Fälle bekannt geworden, bei denen einem Mißbrauchsverdacht fehlerhaft nachgegangen wurde. Bekannt seien ihr allerdings, so schränkt sie ein, einige wenige Fälle, bei denen Erzieherinnen oder Lehrerinnen sich getäuscht hätten. Diese würden dann „im Fernsehen aufgebauscht und pauschalisiert“. „Ein Kinderarzt diagnostiziert doch auch mal falsch“, verteidigt sich Ursula Glatz, „und da wird auch nicht gleich der gesamte Berufsstand in Frage gestellt.“ Glatz fordert deshalb einen öffentlichen Diskurs mit allen Beteiligten, bei dem ein neues Bewußtsein über die Tragweite der Kampagne geschaffen werden soll.

Besonders fatal an der öffentlichen Diskussion findet der Kinder- und Jugendpsychiater Jörg Fegert, der als einer der kompetentesten Fachleute für den Umgang mit sexuellem Mißbrauch gilt, daß das Schicksal der Kinder dabei in den Hintergrund trete. Die Kampagne hätte die Forschung „um Jahre zurückgeworfen“. Nicht mehr die spezifische Hilfe und deren Therapieformen stünden im Vordergrund, sondern in Fachkreisen werde hauptsächlich darüber diskutiert, ob es sexuellen Mißbrauch überhaupt gebe.

Deshalb brauchte der Oberarzt der Abteilung für Psychiatrie und Neurologie des Kinder- und Jugendalters an der Freien Universität (FU) mehrere Anläufe und viel Hartnäckigkeit, um zwei Forschungsvorhaben bewilligt zu bekommen. Ausgewertet werden sollen Gruppendiskussionen von TherapeutInnen, die über ihre Erfahrungen und Schwierigkeiten bei der Arbeit mit sexuell mißbrauchten Kindern sprechen.

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