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Eine Fähre ist Orašjes Lebensader

Die von Serben belagerte nordostbosnische Stadt kann nur über die Save versorgt werden.  ■ Aus Orašje Thomas Schmid

Alte Frauen schlurfen mit schweren Einkaufstaschen die Hauptstraße lang. Vor der Moschee halten Männer ein Schwätzchen. Und einige Hühner, die im Zentrum des Städtchens den Gehsteig sauberpicken, ergänzen das Bild ländlicher Idylle. Keine Spur von Aufgeregtheit. Nur die vielen Uniformen künden von der nahen Front. Und vor allem die dicken, hohen Baumstämme. Zu fünft, sechst, manchmal auch ein ganzes Dutzend, wurden sie senkrecht nebeneinander an die Häuser gelehnt und bilden so – wie Fußballspieler beim Freistoß des Gegners – eine undurchdringliche Mauer. Mindestens ein Fenster decken sie ab, wenigstens ein Raum des Hauses bietet so Schutz vor den Geschossen. Nein, es hagelt nicht Granaten. Aber eine oder zwei schlagen doch täglich irgendwo ein.

Wir befinden uns in Orašje, im Nordosten Bosniens, einer Enklave, die im Westen, Süden und Osten von serbischen Truppen eingeschlossen ist und im Norden durch die Save begrenzt wird. Jenseits des Flusses liegt Kroatien. Doch die mächtige, etwa 300 Meter lange Brücke zum Nachbarstaat wurde schon im Herbst 1991, als die jugoslawische Armee und serbische Freischärler das kroatische Ostslawonien eroberten, in die Luft gesprengt. Die Mitte des Bauwerks liegt nun gut sichtbar wie ein Schiffswrack im Wasser. Wer die Verbindung zwischen Kroatien und Bosnien, das damals vom Krieg noch verschont war, an dieser Stelle gekappt hat, ist umstritten. Nun bringt eine kleine Fähre Menschen, Autos und Lebensmittel von einem Ufer zum anderen.

„Die Fähre ist die Lebensader der Stadt“, sagt Ivo Vincetić, „und wenn der Fluß Hochwasser führt, schafft sie es nicht, gegen die Strömung anzukommen, dann sind wir vom Rest der Welt abgenabelt.“ Doch der Vizebürgermeister, ein unrasierter Mittdreißiger in saloppem grünem Cordhemd, zieht es allemal vor, vom Wasserstand abhängig zu sein als von serbischen Truppen. Orašje blieb jedenfalls bisher das Schicksal der andern bosnischen Enklaven erspart. Doch auch Orašje ist abhängig von der humanitären Hilfe der UNO und der Caritas, zumal viele bosnische Kroaten und Muslime aus den von den Serben eroberten Nachbargemeinden hierher geflohen sind.

Der Bezirk Orašje, bei der letzten Volkszählung 1991 zu 75 Prozent von Kroaten besiedelt, besteht aus neun kroatischen und drei serbischen Dörfern sowie dem gleichnamigen Hauptort, in dem die Muslime den größten Anteil stellen. Heute sind die drei serbischen Dörfer von den Truppen Karadžićs besetzt, viele Kroaten nach Kroatien geflohen. Dieses bietet ihnen, den Ausländern aus Bosnien mit „kroatischem Blut“, anders als den Muslimen eine neue Staatsbürgerschaft. Und so hat sich der Anteil der Muslime erhöht. Aber da gebe es keine Probleme, betont Vincetić.

Die Probleme sieht der Vizebürgermeister vor allem im wirtschaftlichen Bereich. Vor dem Krieg war Orašje ein blühender Ort der Posavina-Tiefebene, einer der fruchtbarsten Gegenden des ehemaligen Jugoslawien. Auch Industrie war hier angesiedelt worden. Die „Mehanika“, die Kabinen für Trecker herstellte, beschäftigte über 500 Arbeiter. Doch mit dem Krieg ging der Markt verloren. 90 Prozent der Kabinen wurden damals an eine Treckerfirma in Belgrad geliefert. Heute arbeiten bei „Mehanika“ noch 60 Personen. Statt Treckerkabinen stellen sie nun Garagentüren und Autoanhänger her, im wesentlichen für den lokalen Markt.

Die „Poleron“, die Plastikwaren produzierte, bot vor dem Krieg 130 Personen Arbeit. Der Rohstoff kam aus dem 70 Kilometer entfernten Tuzla, heute ist die Stadt 1.400 Straßenkilometer entfernt. Denn der kürzeste Weg in das südlich von Orašje gelegene Tuzla führt Richtung Norden über die Save durch Slawonien der ungarischen Grenze entlang nach Zagreb, von dort nach Zadar an die dalmatische Küste, über Split dann durch die Herzegowina und schließlich an Sarajevo vorbei zum Ziel. Jetzt stellen bei „Poleron“ 20 Arbeiter Schränke für einen Abnehmer in Deutschland her.

Am ärgsten gebeutelt aber wurde die Landwirtschaft. Die 300 Hühnerfarmen des Bezirks exportierten vor dem Krieg jährlich 120 Millionen Eier. Nachdem die Futtermittelfabrik des Ortes von serbischer Artillerie zerschossen wurde, muß nun teures Futter in Kroatien eingekauft und mit der schwachen Fähre, die nur 60 Tonnen verkraftet, hertransportiert werden. Immerhin hat sich die Caritas bereit erklärt, den jährlichen Produktionsausstoß von gerade noch 20 Millionen Eiern aufzukaufen und auf eigene Kosten nach Zentralbosnien zu bringen.

„Wir brauchen keine Hilfspäckchen mit Konserven von der UNO und der EU“, schließt Vincetić seine wirtschaftlichen Ausführungen ab, „sondern Märkte, Abnehmer, Düngemittel, Hilfe für unsere Fabriken – und vor allem eine Brücke!“ Eine Brücke koste etwa sieben Millionen Mark. Das habe er ausrechnen lassen. „Eine Brücke statt Konserven“, wiederholt der Vizebürgermeister eindringlich beim Abschied, „eine Brücke bietet immer Sicherheit.“

Tomislav Božic sieht das natürlich anders. Der Brigadekommandant hat sein Hauptquartier in einer requirierten Privatwohnung aufgeschlagen. Der antike Bauernschrank, das Schmuckstück der guten Stube, steht nun quasi im Schatten einer großen Fahne, die vom Boden bis zur Decke reicht. Es ist nicht das Lilienbanner der Republik Bosnien-Herzegowina, sondern die Flagge mit dem rotweißen Schachbrett von Herceg- Bosna, der kroatischen „Republik“ auf bosnischem Boden. Von der „Armija“, der bosnischen Regierungsarmee, ist hier kein einziger Soldat zu sehen. Die Enklave wird von der kroatisch-bosnischen HVO verteidigt. Der bärtige Kommandant, der bis vor drei Jahren als Rechtsanwalt arbeitete, geht davon aus, daß Brücken im Krieg zerstört werden. „Was wir brauchen, sind Waffen“, sagt er knapp und gibt zu, daß er die Enklave mit seinen 40.000 Einwohnern, ein Landstreifen von 27 Kilometer Länge und zwölf Kilometern Breite, nicht verteidigen kann, wenn die Serben sie einnehmen wollen. Seine Soldaten müßten mit dem Rücken zum Fluß gegen drei Fronten gleichzeitig kämpfen.

Regelmäßig, wenn auch ohne allen martialischen Eifer, beschießen die Serben die Enklave. Doch an einer Eroberung ist ihnen offenbar, zur Zeit wenigstens, nicht gelegen. Dies ist um so erstaunlicher, als Orašje direkt am strategisch wichtigsten serbischen Korridor bei Brčko liegt, der die serbisch-besetzten Gebiete Bosniens und Kroatiens mit dem serbischen Mutterland verbindet. Bei Orašje ist dieser Korridor gerade sieben Kilometer breit. Mag sein, daß sich die Serben eine Eroberung für den Fall aufgespart haben, daß die HVO in Orašje und die bosnische Regierungsarmee in Tuzla versuchen, den engen Korridor in einer gemeinsamen Aktion zu zerschneiden und einen eigenen bosnischen Korridor von der Save nach Zentralbosnien zu schaffen.

Jedenfalls ist es in Orašje ruhig, und Božic bestreitet, daß es zwischen den verfeindeten Truppen irgendein Abkommen gibt. „Wenn wir auf einen Serben treffen, verhandeln wir nicht, sondern schießen“, sagt der Offizier mit theatralischem Pathos, „und das ist auch umgekehrt so.“ Und dann: „Vielleicht hätten Sie dieses Interview schon morgen nicht mehr machen können, vielleicht bin ich morgen tot.“ Es ist Zeit, sich zu verabschieden, zumal der Mann alles, was dem Verständnis der Lage dienlich sein könnte, zum militärischen Geheimnis erklärt. „Auf Wiedersehen und vielen Dank.“ – „Auf Wiedersehen im Himmel.“

Vidovice ist eines der beiden kroatischen Dörfer des Bezirks Orašje, das die Serben 1992 schon bald nach Kriegsbeginn erobert, noch im selben Jahr aber wieder verloren oder aufgegeben haben. Die Fahrt zum Dörfchen an der Front führt vorbei an Feldern mit mannshohem, ungeerntet verdorrtem Mais und brachliegenden Ländereien, die von der Natur zurückerobert werden. Hier und dort erinnern kleine Holzkreuze an die zufällig an dieser oder jener Stelle vom Krieg eingeholten Menschen. Straßenblockaden aus eisernen T- Balken, sogenannte spanische Reiter, zwingen immer wieder zu Umwegen übers freie Feld.

Nur ganz wenige Häuser von Vidovice haben den Krieg heil überstanden. Die alte Kirche steht nicht mehr, und auch die neue, erst vor fünf Jahren errichtet, ist ein Trümmerhaufen. Irgendwo vor einer Ruine zwischen Plastikröhren, die die Norweger geliefert haben, und Baumaterial aus Belgien stehen einige Dutzend Menschen Schlange, alte Männer und Frauen mit grauen, oft zahnlosen Gesichtern. Die Caritas verteilt Waschpulver und Konserven. Auch Marja Ivkić steht an. Damals vor zweieinhalb Jahren konnte sie gerade noch zwei Einkaufstaschen mit dem Wichtigsten füllen und sich zu ihrer Schwester nach Orašje retten. Als die Serben dann abgezogen waren, dauerte es ein halbes Jahr, bis sie sich zurück traute. Sie fand ein geplündertes, zerstörtes Haus vor. An die 300 Leute sind schon ins Dorf zurückgekommen, das vor dem Krieg 2.800 Einwohner zählte. Doch Marja Ivkić wohnt noch immer als Flüchtling in Orašje. Nach Vidovice ist sie nur gefahren, um die Caritas-Spende abzuholen. Doch das Fundament ihres neuen Hauses steht schon. Auch sie will zurück.

Es scheint absurd, hier, zwei Kilometer von der Front entfernt, Häuser zu bauen. Der Krieg kann jederzeit das Dorf ein zweites Mal zerstören. Doch die Menschen sind des Wartens müde, sie wollen etwas tun, ihre Hände sind Arbeit gewohnt, und immerhin ist es ja seit bald anderthalb Jahren ruhig – abgesehen von den vereinzelten Gewehrsalven, die man in der Ferne hört, und den wenigen Granaten, die irgendwo in der Enklave einschlagen. Und so wird gebaut. Viele Flüchtlinge arbeiten tagsüber an ihrem Haus und kehren abends zu ihren Verwandten oder Bekannten zurück, bei denen sie diesseits oder jenseits der Save untergekommen sind.

Auch Stjepo, ein bosnischer Kroate, will in sein Dorf zurück. Doch das liegt jenseits der Front, mitten im serbischen Korridor. Dort, in Tramošnica, hat er ein kleines Kaffeehaus besessen und einen Hektar Land. „Als die Tschetniks kamen,“ sagt Stjepo und meint die serbischen Freischärler, „sind von den 5.000 Einwohnern meines Dorfes höchstens 50 geblieben.“ Es waren vor allem die Alten. Was aus ihnen geworden ist, weiß er nicht. Mit der Fähre, der „Lebensader Orašjes“, setzen wir über den Fluß auf die andere Seite über. Dort in Kroatien, in Županja, wohnt Stjepo – buchstäblich auf dem Abstellgleis. Das deutsche Hilfskomitee Cap Anamur hat 49 ausrangierte Waggons der Deutschen Bahn AG an den Grenzort gefahren. Sie sind zu geräumigen Wohnungen umgebaut, mit Ölöfen ausgestattet, und auch der Fernseher gehört zur Standardeinrichtung. Ein Dorf ersetzen sie natürlich nie. Das weiß auch Richard Harenkampf, der 46jährige deutsche Autoschlosser, der das ungewöhnliche Flüchtlingslager managt. Aber zumindest haben ein paar hundert Menschen wieder ein Dach über dem Kopf, zwei warme Mahlzeiten täglich und im Notfall ärztliche Versorgung. Das ist im dritten Kriegswinter nicht wenig.

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