: Politbüro soll vor Gericht
■ Anklageschrift wegen Todesschüssen wird in diesen Tagen zugestellt
Berlin (dpa/taz) – Noch vor Jahresende wird Egon Krenz Post von der Staatsanwaltschaft erhalten. Der für die Verfolgung der DDR- Regierungskriminalität zuständige Generalstaatsanwalt Christoph Schaefgen erklärte gestern, daß die noch lebenden und bislang nicht strafrechtlich verfolgten Mitglieder des SED-Politbüros in den nächtsen Tagen mit Anklagen rechnen müssen. Der Vorwurf: Totschlag an Flüchtlingen an der deutsch-deutschen Grenze. Beschuldigt würden neben dem letzten DDR-Staats- und Parteichef Egon Krenz (57) die Politbüromitglieder Erich Mückenberger (84), Kurt Hager (82), Harry Tisch (67), Günter Schabowski (65), Günther Kleiber (63) und Horst Dohlus (69). Da das Politbüro den Schießbefehl nicht erlassen hat und formal dafür auch nicht zuständig war, begründet die Anklage die Täterschaft mit einem Rechtskonstrukt, dem in einem anderen Fall bereits der höchstrichterliche Segen des BGH zuteil wurde. Die Politbüromitglieder, so die Staatsanwälte, hätten von den Schüssen an der Grenze gewußt, gleichwohl jedoch nichts dagegen unternommen. „Ihnen wird der Vorwurf der Unterlassung der Humanisierung des Grenzregimes gemacht“, sagte Schaefgen.
Die Verfolgung der sogenannten DDR-Regierungskriminalität kommt nach den Worten Schaefgens voran. Insgesamt seien bislang 130 Anklagen erhoben worden. 50 Anklagen beträfen allein die Gewalttaten an der Berliner Mauer und der innerdeutschen Grenze. Unter den Beschuldigten seien zahlreiche Verantwortliche in der obersten DDR-Militärhierarchie. Gegen hohe Richter und Staatsanwälte der DDR – darunter in 17 Fällen gegen Richter des Obersten Gerichts und Mitarbeiter des Generalstaatsanwalts – habe die Staatsanwaltschaft insgesamt 33 Anklagen erhoben. Wegen der Verurteilung des DDR- Regimekritikers Rudolf Bahro im Juni 1978 würde eine weitere Anklage gegen die beteiligten Richter in Kürze erfolgen.
Bahro war vom 1. Strafsenat des Stadtgerichts Berlin wegen „Sammlung und Übermittlung von Nachrichten für eine ausländische Macht und Geheimnisverrats“ zu einer Haftstrafe von acht Jahren verurteilt worden. 1979 wurde er entlassen und siedelte in die Bundesrepublik über. Nach der Wende hob das Oberste Gericht der DDR das Urteil auf.
30 Anklagen – darunter auch gegen Alexander Schalck-Golodkowski und Wolfgang Vogel – lägen wegen Wirtschaftsdelikten vor. In 17 Fällen von Stasi-Verbrechen wie Freiheitsberaubung und Auftragsmord habe die Staatsanwaltschaft ebenfalls die Eröffnung von Prozessen beantragt.
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