: „Mit Jesus ist das Leben eine große Party“
■ Kreuzigungs-Happening auf der Reeperbahn : Die „Jesus Freaks“ preisen den Herrn im Stil der siebziger Jahre, hängen regelmäßig abends ab und haben auf St. Pauli eine Kneipe eröffnet Von Torsten Schubert
Passanten weichen erschrocken vor der Horde prügelnder Jugendlicher zurück. Wilde Schreie hallen über die regennasse Hamburger Reeperbahn. Wüste Beschimpfungen, Kettenrasseln, immer wieder das dumpfe Geräusch von Schlägen. Ein blutüberströmter Mann trägt inmitten der brüllenden Menge ein Holzkreuz über den Kiez, bis zum Spielbudenplatz zwischen Tivoli und Davidwache. Neugierige bleiben stehen, eine ältere Frau flüstert: „Gott möge ihnen vergeben.“
Der Mann wird an das Holzkreuz genagelt, die Menge umsteht ihn schaudernd. Und plötzlich beginnt er zu predigen – von Jesus, der „für uns am Kreuz gestorben ist“, vom Einfluß, den „der Herr heute auf mein eigenes Leben hat“. Diskussionen entbrennen: Ein Mann, der sagt, er habe Aids, glaubt nicht an Gott. Seine Freundin ist eher unsicher. Die prügelnde Horde Jugendlicher entpuppt sich als eine Gruppe christlicher Missionare. Doch von welcher Kirche sind sie? Ihr Auftreten ist ungewöhnlich – ihre Botschaft lautet: „Jesus, das ist eine große Party.“
Sie verteilen Zettel und geben als ihre Adresse eine Kneipe in der Friedrichstraße beim Hans-Albers-Platz an. Eine Prostituierte weist den Weg: „Das ist der Laden mit dem unaussprechlichen Namen – gleich um die Ecke.“ Schmiedeeisern stehen die Buchstaben über dem Eingang. Sie erinnern an den langen Namen einer irischen Stadt, unmöglich ihnen auf den ersten Blick einen Sinn zu geben. „GNLPSWXYBD“ gehört ins Buch der Rekorde als kuriosester Kneipenname.
Drinnen sieht es ganz normal aus, kein Blut, kein Geschrei. Gott sei Dank, denkt der Besucher unwillkürlich nach dem Spektakel auf der Reeperbahn. Hinter der Bar steht ein hochaufgeschossener Mann. Seine langen, schwarzen Haare hängen ihm unter einer Baseballmütze bis auf die Schultern. „Jesus Freaks“ steht auf der Mütze – ein erster Anhaltspunkt. Jetzt ist der Blick für die Besonderheiten der Kneipe geschärft. Im Regal neben den alkoholischen Getränken blinkt fortwährend ein Leuchtdioden-Kreuz. An der Bar sitzt einer und liest die „Heilige Schrift“. Stehtische sind mit ausgerissenen Bibelseiten belegt.
Auch dem Schiffsmakler Christian, der nur mal eben ein Bier trinken wollte, kommt die Kneipe schon „reichlich komisch vor“. Als er dann aber vom Wirt hinter dem Tresen erfährt, daß die „Jesus Freaks“ eine christliche Gemeinschaft sind, verabschiedet er sich schnell. Er vermutet wohl eine Sekte, denn welche Kirche würde schon eine Kneipe auf dem Kiez eröffnen? „Wir sind halt anders“, sagt Martin Dreyer und versucht, einen Milchkaffee zu „brauen“. Die Arbeit eines „Kneipiers“ geht ihm noch nicht leicht von der Hand. „Schließlich haben wir gerade erst eröffnet.“ In zwei Wochen konnten die „Freaks“, wie sie sich selbst nennen“, den „vergammelten Laden“ renovieren. „Alles in Eigenarbeit.“ Um den Kaufpreis von 80.000 Mark haben sie gebetet. „Ich hatte einen Traum, in dem ich diese Räume sah – als ich dann die Verkaufsannonce in der Zeitung gelesen habe, wußte ich, daß wir unsere Kneipe bekommen werden.“ Was sind denn nun die „Jesus Freaks“? Das, so Martin Dreyer, erlebe man am besten in einem ihrer Gottesdienste.
Freitagabend. „Okay, es geht los.“ Martin Dreyer begrüßt die „Freaks“. Etwa 200 sind gekommen. Livemusik spielt: Schlagzeug, Gitarre, Gesang. Im Stil der siebziger Jahre, die selbst komponierten Lieder sind wie Gospels. Rhythmisch, religiös. Ein Lichtbild wird an die Wand geworfen: Über einem verschlungenen Alpha und Omega stehen die Worte „Jesus Freaks“. Seit etwa zwei Jahren treffen sich die Teens und Twens regelmäßig zu ihren „Jesus Abhängabenden“, zu Gottesdiensten, die auf den ersten Blick nichts mit dem Glauben gemein haben, wie er von den großen christlichen Kirchen gelehrt wird. Gott wird nicht in respektvoller Distanz gepriesen, sondern soll ein Freund sein, der sinnlich erlebt werden kann. „Jesus, das ist Dein Abend, und wenn Du Bock drauf hast, dann mach, daß er gut wird“, beschwört Martin Dreyer.
Vorbild ist das amerikanische „Jesus People Movement“. Eine religiöse Bewegung Anfang der siebziger Jahre, die ein fundamentalistisches Bibelverständnis mit emotionaler Hingabe an Jesus verbunden hat. Martin Dreyer ist der Pastor der Hippie-Gemeinde. Er trägt ein schwarzes T-Shirt mit den „Jesus Freak“-Symbolen: Neben dem „A und O“ ein Totenkopf, in den sich ein Kreuz bohrt. Der 29jährige hat in seiner Stimme etwas Radikales, Mitreißendes. Als er, wie alle „Jesus Freaks“, in der Alster getauft wurde, bekam er den Bibelspruch mit auf den Weg: „Wenn jemand redet, so rede er Aussprüche Gottes.“
Gemeinsam werden Lieder gesungen. Danach betet jeder für sich. Einige fallen auf die Knie, werfen sich auf den Boden, strecken die Hände hoch. Niemand hat Scheu, laut mit Jesus zu sprechen. Der Raum vibriert von inbrünstigem Gemurmel, aus dem manchmal ein Satz ausbricht und für Sekunden über den allgemeinen Wortschwall fliegt. „Jesus, einige von uns würden echt in der Scheiße sitzen, wenn Du uns nicht geholfen hättest.“ Die Zustimmung: „Herr, Du bist mein Schmerzmittel.“ Einer schildert seine Vision: „Ich habe an der Wand ein riesiges, gleißendes Dreieck gesehen. Daraus trat Jesus mit Samen und Erde.“ Seine Deutung: „Wir sollen Gottes Wort in dieser Stadt verbreiten.“
Das will auch Martin Dreyer. Er predigt über das Feuer des Heiligen Geistes, wie es über die „Freaks“ kommt. „Nicht ist geiler, als wenn Dein Feuer bei uns brennt.“ Wie sie immer mehr werden und das Feuer ganz Hamburg erfaßt, „bis wir bei Veranstaltungen das Volksparkstadion füllen“. Eine Stimme flüstert: „Das Millerntor.“
„Eine Sekte sind wir nicht“, sagt Martin Dreyer. „Wir fordern nichts. Uns verbindet der gemeinsame Glaube, aber wir engen niemanden ein.“ Bea, 20 Jahre alt, hat drei Kreuze um den Hals hängen: „Vater, Sohn und Heiliger Geist.“ Sie hat rote Haare und hält ständig eine Zigarette in der Hand. Wie sie zu den „Jesus Freaks“ gekommen ist? „Ich war einsam, ich habe versucht, mir die Pulsadern aufzuschneiden“, sagt sie.
Dann erzählt sie von den vielen Partys, von ihrer Suche nach Wärme und Liebe. „Mein Bedürfnis nach menschlicher Liebe wollte ich mit Sex befriedigen.“ Irgendwann habe sie sich einer christlichen Jugendbewegung angeschlossen. „Eine ganze Woche habe ich wie eine Verrückte gebetet. Dann hatte ich plötzlich den Glauben an Gott.“ Bei den „Freaks“ sei ihr die erste wirkliche Liebe begegnet. Jetzt lernt Bea Floristin.
Martin Dreyer versteht es, die Emotionen der „Jesus Freaks“ immer neu zu schüren: „Wir wollen schrill und laut sein.“ Auf Dauer möchte er eine eigene Kirche. „Wir haben dafür keinen Pfennig – aber Jesus hilft“, glaubt Martin Dreyer. Als Anfang reicht erst einmal die Kneipe auf der Reeperbahn. Wenn sie richtig läuft, soll bei Livemusik getanzt und getrunken werden. „Sonntags wollen wir dann in unserer Gemeinde Jesus erleben.“
Die Eröffnung der Kneipe war vielversprechend. Über 500 Gäste kamen. Doch die Ernüchterung folgte ein paar Tage später. „Da wurden uns 1200 Mark aus der Kasse geklaut.“ Bei einer monatlichen Miete von 2500 Mark war das für die „Jesus Freaks“ ein herber Verlust. Davon unterkriegen lassen sie sich nicht. Im Gegenteil: Sie verteilen weiterhin Brot an die Ärmsten auf dem Kiez, Gestrandete finden bei ihnen immer einen warmen Platz. Wie Jens, der etwa 40jährige Alkoholiker, der manchmal randaliert. Zu seinem Geburtstag schenken ihm die „Freaks“ eine Kreuzkette und stecken für ihn Kerzen auf einen Kuchen. „Auch wenn er davon nichts mitbekommt, spürt Jens, daß wir ihn akzeptieren“, sagt Olli und sieht aus der Bibel auf.
Was „GNLPSWXYBD“ bedeutet? „Das ist kein Geheimnis“, sagt Martin Dreyer, der das Wort übrigens tatsächlich aussprechen kann und sich am Telefon stets mit dem Kneipennamen meldet. „Wir haben die Anfangsbuchstaben aller Apostel genommen und sie irgendwie aufs Papier geschrieben – und das ist der Name unserer Kneipe geworden.“ Da paßt es, daß sich die täglich wechselnde Tresenbesatzung „Jesus dealers“ nennt. Es ist halt alles Jesus im Leben eines „Jesus Freaks“.
Über Zulauf können sie sich nicht beklagen. Ihre lockere Art kommt vor allem bei Jugendlichen an, die Probleme mit Alkohol und Rauschgift haben oder vom Leben enttäuscht sind. Die „Jesus Freaks“ geben ihnen neuen Halt im Leben. Inzwischen bundesweit in fünf weiteren Gruppe. „In diesem Herbst soll sogar eine Gruppe in Chicago entstehen.“
Jesus als Lebenslüge? „Nein, dafür nehmen wir den Glauben zu ernst“, sagt Martin Dreyer, der eine freikirchliche Ausbildung zum Pastor macht und nebenbei Suchttherapeut werden will. „Bei unserer Taufe schmeißen wir unser altes, schlechtes Leben in Form von Briefen oder Tagebüchern, Fixergeschirr oder anderen Erinnerungen symbolisch ins Feuer – von da an leben wir ganz im Vertrauen auf Jesus. Das bezeichne ich nicht als Lebenslüge.“
Inzwischen tobt in der Kneipe das Leben. Grell gefärbtes Popkorn steht in großen Pappeimern kostenlos überall in der Kneipe. „Warum ich hier bin? Das ist eine tolle Stimmung hier und eine super Atmosphäre“, sagt ein Mädchen. Vor den Toiletten laufen alle Folgen von „Raumschiff Enterprise“, der große Innenhof ist mit rohen Zaunlatten umgrenzt, in die christliche Symbole geschnitzt sind.
Martin Dreyer steht noch immer hinter dem Tresen und schenkt Bier aus. Nebenbei „braut“ er einen Milchkaffee und diesmal fällt es ihm schon leichter. „Wir müssen noch viel lernen“, sagt er, „aber mit Jesus ist das ganze Leben eine große Party“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen