: Ausziehen? Warum eigentlich?
■ Viele Eltern, die selber um 1968 jung waren, haben heute ein unerwartetes Problem: Ihre Kinder, die heute 20 oder älter sind, haben keine Lust, von zu Hause wegzuziehen. Ein Student, 23, erzählt, warum ...
Viele Eltern, die selber um 1968 jung waren, haben heute ein unerwartetes Problem: Ihre Kinder, die heute 20 oder älter sind, haben keine Lust, von zu Hause wegzuziehen. Ein Student, 23, erzählt, warum er da gar kein Problem sieht. Und eine Mutter, 46, wird ultimativ.
Ausziehen? Warum eigentlich?
Ausziehen? Ihr fragt uns, wann wir denn gedächten, Eure heimeligen vier Wände zu verlassen? Wieso eigentlich nur Eure? Wir wohnen schließlich auch noch hier, oder nicht? Oder gehören Kinder mit über 20 auf einmal nicht mehr zur Familie? Gibt's da denn etwa so was wie ein festgelegtes Alter, jetzt bist du volljährig, und jetzt geh bitte? Das verstehe mal, wer will. So was Unflexibles! Der eine braucht eben länger, die andere kürzer. Das kann man doch nicht so von heute auf morgen einfach festlegen. Das wird uns doch gar nicht individuell gerecht.
Warum denn eigentlich? Klappt doch alles bestens bei uns. Es gibt die Arbeitsteilung, alles ist gut organisiert, die Aufgaben sind gemäß der individuellen Fähigkeiten und der zur Verfügung stehenden Zeit eingeteilt; das funktioniert ja schon seit Jahrzehnten prima. Das Modell „Familien-WG“ ist bei uns schon lange zur Serienreife entwickelt, und wenn ich später mal selbst ne Familie haben sollte, dann soll das genauso aussehen...
Räumliche Trennung, Ablösungsprozeß vom Elternhaus, das ist doch mittlerweile kalter Kaffee, oder? Vokabular aus dem Saurierzeitalter der Familienpsychologie; haben wir denn so was noch nötig? Das bezog sich doch nur auf so richtig autoritär geprägte, patriarchalische Strukturen, da sei mal Eure progressive Erziehung vor...
Wir können doch froh sein, wenn wir eine einigermaßen intakte Familie sind – schaut doch mal auf die Scheidungsraten! Oder denkt an die Gewaltproblematik! Kinder, die mit 13 von Zuhause abhauen, seelische Krüppel, verwahrlost. Die kann man ja verstehen, da würde ich mich auch dünnemachen!
Ihr seid doch selber schuld, Ihr konntet doch nicht genug davon kriegen, ständig mit Glanz und Gloria die altbackene Despotenhaltung zu verdammen, die immer mit dem Spruch daherkommt: Solange du deine Füße unter meinen Tisch steckst, tust du, was ich sage! Was können wir denn dafür, daß wir uns zu Hause noch immer wohlfühlen, darauf hattet Ihr es doch gerade angelegt, oder?
Ihr wart ja auch immer so verständnisvoll! Es dauerte schon sehr lange, bis Musik so laut war, daß sie Euch zu einem Wutausbruch hätte reizen können... na ja, Ihr erinnert Euch eben noch gut daran, daß Ihr auch mal jung und übermütig wart, ist ja nun noch nicht so lange her. Sein wir doch mal ehrlich, eigentlich fühlt Ihr Euch ja doch noch wie die „junge Generation“. Ihr seid eben die Junggebliebenen, nur Eure Kinder werden immer älter; das Verständnis ist alterslos. Denkt doch mal dran, wie Eure Eltern in Eurem heutigen Alter waren. Wär' ja auch schlimm, wenn's seitdem keinen Fortschritt gegeben hätte. Aber selbst Ihr seid doch nicht so ohne viel Federlesens vor die Tür gesetzt worden. Meinetwegen, Ihr wolltet vielleicht von Euch aus weg, als Ihr so alt wart wie wir jetzt. Aber das waren ja auch andere Zeiten.
Und überhaupt: Weggehen ist ja schließlich nicht so einfach. Ich sage nur: Wohnungsnot! Miethaie! Obdachlosigkeit! Gerade junge Leute ohne dickes Einkommen haben's heute besonders schwer. Damals bei Euch konnte man ja noch Häuser besetzen; das wirkt doch heute nur noch wie bloße aufgesetzte Nostalgie, als Abklatsch einer Zeit, die wir selbst gar nicht so richtig mitgekriegt haben. Außerdem: Indem wir bei Euch ausziehen, besetzen wir nur unnötig Wohnraum, den andere besser brauchen könnten, denn unsere alten Zimmer bei Euch werden ja doch nicht untervermietet.
Es ist also quasi unsere sozialmoralische Pflicht, weiterhin bei Euch zu bleiben. Sicherlich, wir wären ein Stückchen freier, unabhängiger und selbständiger, und Ihr hättet mehr Platz, aber man kann doch nicht aus so egoistischen Motiven anderen Leuten das Dach über dem Kopf klauen! Wo bleibt da denn die Verhältnismäßigkeit?
Was denn, das soll ein Scheinargument sein? Sozial bemäntelte Bequemlichkeit? Also bitte: Da setzt Ihr alles dran, daß wir ein ausgeprägtes soziales Empfinden aus Eurer Erziehung mitnehmen, und ausgerechnet Ihr wollt auf einmal so egoistisch werden? Haben wir Euch denn jemals einen Grund dazu gegeben? Wir waren doch wirklich immer nett und pflegeleicht. Wir haben uns nie heimlich am Haushaltsgeld vergriffen, unseren Besuch haben wir Euch immer vorgestellt (und der war höflich und hat brav die Hand gegeben); Ihr wußtet immer, wo wir stecken, wann wir wieder zurück sind und welchen Umgang wir haben (darüber hinaus haben wir Euch nie in die Verlegenheit gebracht, uns den verbieten zu müssen, weil er vielleicht schlechten Einfluß auf uns hätte haben können); wir sagen danke und bitte und haben noch kein einziges Mal (!) Euer Auto zu Schrott gefahren.
Andere Eltern sind froh, wenn sie ihre Kinder möglichst lange um sich haben, die lassen sie sogar auf ihrem Grundstück das eigene Häuschen bauen und stecken noch Geld dazu. Die Renaissance der Großfamilie! Und wiederum andere beschweren sich, daß sie keine Familie mehr haben oder keinen Kontakt zu ihr...
Außerdem macht Ihr es Euch zu leicht. Da setzt Ihr uns einfach so vor einpaarundzwanzig Jahren in die Welt, ohne daß wir eine Chance zum Protest dagegen gehabt hätten, und jetzt wollt Ihr uns auf ein mal los sein, kehrt die Autoritäten raus und setzt uns vor die Tür, als hätten wir da nicht noch ein Wörtchen mitzureden. Nein, so haben wir nicht gewettet! Jetzt habt Ihr uns am Hals, und wir werden uns von Euch nicht sagen lassen, wann wir zu gehen haben. Das sollten wir doch eigentlich selbst am besten beurteilen können, findet Ihr nicht?
Am Ende wär's Euch wohl noch recht, wenn wir auch an Weihnachten nicht mehr nach Hause kämen, oder was...? [Das wär's! Endlich nie mehr Weihnachten feiern zu müssen! d.sin] Na also. Peter König
Der Autor lebt bei seinen Eltern in Offenburg. Im „Kursbuch“ 113/93 zur Jugend hat er einen Essay unter dem Titel „Wir Voodookinder“ veröffentlicht.
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