: Kassiber für die Reise
Was vom Tage übrigblieb – kleine Filmbilanz 1994. Man sah: Relevanz muß nicht schlecht sein ■ Von Mariam Niroumand
Die Skeptiker unter den Filmbeobachtern könnten – bäte man sie um ein Piktogramm, in dem das Kinojahr des Herrn 1994 zusammengefaßt werden könnte – vielleicht die über Los Angeles ziehenden Hubschrauber aus „Short Cuts“ zitieren. Wie ein Abschied an den auktorialen Kinoerzähler ziehen sie über die Kamera hinweg. Sie gewähren keinen privilegierten Zugang zur Wahrheit mehr, wie das in „Apocalypse Now“ noch der Fall war, sondern hinterlassen todbringende Insektizide; in ihrem Windschatten bleibt nichts als ein heilloses Bündel monadischer Episoden, die sich höchstens noch in der Katastrophe berührten. Was die Menschen da machen, bleibt so schleierhaft wie die Triebkräfte im Terrarium; aus dem Gewimmel ist kein Schema mehr zu machen. Wer es trotzdem versucht hat, wie Kieslowski in seiner Trilogie „Drei Farben“, ist mehr oder weniger grandios im Kunstgewerbe ersoffen.
Die Apologeten – und sie werden im Geburtstagsjahr des Kinos Legion sein – könnten entgegnen, daß diese grandiosen Gesten eine Reaktion der Filmemacher auf die exorbitant gestiegene Bedeutung der Bilderproduktion sind. War es nicht ein Video, das die Riots in Los Angeles ausgelöst hat? Hat man die Ära Berlusconi nicht „Fernsehrepublik“ genannt? Hat nicht ein deutsches Gericht sich bemüßigt gesehen, detaillierte Angaben dazu zu machen, ob man beim Filmen von Nazis eine Froschperspektive wählen darf? Hat nicht Court Room TV eine ganze Nation zu Juroren gemacht?
Ach was, parieren die Skeptiker, längst zählen Fotos nicht mehr als justitiable Beweismittel (nur noch die radargesteuerten Blitzaufnahmen in Prozessen wegen Verkehrssicherheit). Das sei auch wenig verwunderlich, schließlich habe man in den Archivaufnahmen aus „Forrest Gump“, bei denen der tumbe Held in einen Handshake mit diversen Präsidenten hineinkopiert worden sei, gesehen, daß nicht einmal dem früheren Authentizitätskriterium Schwarzweiß mehr zu trauen sei. Auch das war in „Short Cuts“ vorgeführt: Man erinnere sich an die Szene, als diverse Protagonisten ihre privaten Schnappschüsse aus dem Labor holen wollten und versehentlich die des Nachbarn in Händen hielten. Die Mädchen sahen die Wasserleiche, an der aber der Angler, dem die Fotos gehörten, gar keine Schuld trug; der Angler sah eins der Mädchen auf einem Foto, das ihr Freund geschossen hatte, nachdem er mit ihr „Ich-hau-dich-und-ersteche-dich- Anschließend“ gespielt hatte. Schockschwerenot! auf beiden Seiten; dabei waren die angeblichen „Schnappschüsse“ in beiden Fällen viel zu komplizierte Arrangements, als daß sie schlicht für bare Münze hätten genommen werden können – für das Gegenteil aber eben auch nicht. „True Lies“ trifft es schon ganz gut.
Aber wen interessiert das, wenn man sieht, daß „Schindlers Liste“ nicht auf der Ebene der historischen Akuratesse, sondern auf der seines „Diskurses“ angegriffen wurde? Daß ihm vor allem amerikanische Kritiker, längst geschult in der Kritik narrativer Strategien im Umgang mit den Holocaust- Museen, vorgeworfen haben, er mache Schindler spätestens in der Fabrikszene zum Rabbiner für ein Volk von dankbaren Lämmern, die nicht über Volksbuchklischees hinauswachsen können? Daß Spielberg nichts getan hätte, als den Gründungsmythos, den er in „Jurassic Park“ begonnen hat, hier fortzuführen – wie wir an der Hand eines verlorenen und wiedergefundenen Vaters wurden, was wir sind? Auch wenn in diese Melodie natürlich die Studiogründung des Traumteams Spielberg-Katzenberg-Geffen hineinpaßt: Spielberg hat bei „Schindlers Liste“ sehr genau gewußt, daß er dem Holocaust eine Teleologie verpassen wollte und es nicht geschafft hat. Spätestens der Kitsch, mit dem das schwarze Blut in den Schnee fließt, macht es deutlich, und die Schlußszene mit Liam Neesons entsetzlichem antikapitalistischem Zusammenbruch markiert es vollends. Die Hollywood-Sinnsuche stößt hier an ihre Grenzen; Schindler hat, gerade weil er so ein Außerirdischer war, die eiserne Willkür des Systems bestätigt. Nie war Scheitern so wichtig.
Wer von „Diskurs“ redet, kann von unterschiedlichen Benutzerzugängen nicht schweigen. „Schindlers Liste“ ist in Israel ebensowenig ernst genommen worden wie Claude Lanzmanns „Tsahal“, aus erstaunlich ähnlichen Gründen. Während man dort mehr und mehr von einer nationalen Existenzberechtigung durch den Holocaust abrückt, ist man in den USA und Deutschland aus den verschiedensten Gründen offenbar noch daran interessiert, Israel (als den sicheren Hort, mit dem der Film ja endet) in dieser Kontinuität zu sehen. Die Debatten um „Balagan“ – den Film eines deutschen Offizierssohns über die „blasphemischen“ Praktiken einer israelischen Theatergruppe, die mit einer exorzistischen Gestalttherapie gegen die israelische Gedenkkultur anzukämpfen versuchen – haben kein neues Licht auf die Differenzen zwischen jüdischer und deutscher Perspektive werfen können. Statt dessen wurde umstandslos Identifikation angeboten.
Während Spielberg in Windeseile (und in Konkurrenz zu einem universitären Projekt in Yale) begonnen hat, ein Archiv für oral-history-Aufnahmen von Überlebenden des Holocaust aufzubauen, filmen Aids-Kranke ihren Tod und den ihrer Freunde. „Das alles gibt es also“, scheint Derek Jarman zu sagen, gänzlich ohne Bilder, unter einer endlos tiefen azurblauen Folie. „Blue“ ist weniger das Testament eines erblindenden Regisseurs, als viel mehr eine Art Kassiber für die Passage, ein Tagebuch, von diesseits und jenseits zu lesen. Daß Manfred Salzgeber, sein Verleiher, den Filmstart nur wenige Monate überlebte, ist irgendwie auch schon in „Blue“ gewesen.
Verschiedene Leute haben ziemlich vielversprechende Versuche gemacht, sich unter den allenthalben anschwellenden filmischen Bocksgesängen hindurchzuschlängeln und sind dabei auf das Tagebuch als durchaus probate Form gestoßen. Es gibt die kleine Geste vor, spendiert die Heimat als Kulisse, setzt den schon verloren geglaubten auteur wieder in Amt und Würden und erlaubt einen thematischen Wildwuchs, den vom „Stream of consciousness“ nur der Mangel an Pathos unterscheidet. Nanni Moretti kann einem den Niedergang der italienischen Linken, den Samba mit Silvana Mangano, Enzensbergers Thesen zum Fernsehen und das Wohnen in Favola unterjubeln, und man hat trotzdem beim Rausgehen das Gefühl, höchstens von ein paar Kleieflocken gestreift worden zu sein. Eric Rohmer kann Debatten und Positionen rund um „Der Baum, der Bürgermeister und die Mediathek“ aufzeichnen, ohne daß man in einen „Essay“ entlassen wird. Ein Hauch Zukunft scheint auf: was vom Tage übrigbleibt, ist auch, was dein Nachbar von deiner Idee hält; hier, dieser Film hat es für euch festgehalten.
Bleibt zu hoffen, daß der Serial- Killer-Boom im nächsten Jahr ein wenig abebben möge. Nichts gegen Gewalt, Gott bewahre! Nur ist leider, am schlimmsten in „Natural Born Killers“, das Leitmotiv vom schön mordenden Wilden zur großen Zivilisationskritik, zu Medienschelte und zum Zzzzexualitäts- Substrat benutzt worden. Als Mickey und Mallory endlich einmal tun sollen, wovor uns die Brunhilde-Perücke schon die ganze Zeit gewarnt hat, ist prompt ein Hitler im Motel-Fenster zu sehen und blickt dräuend. No sex, please.
Daß die Zensurüberlegungen einiger Agenten des öffentlichen Lebens sich zwar gegen „Natural Born Killers“, aber nicht gegen die „Bartholomäusnacht“ mit ihren vielen Hieben und Stichen gerichtet haben, hat wahrscheinlich nur mit den sogenannten „Sehgewohnheiten“ zu tun. Wenn ein Mord keinen visuellen und narrativen Höhepunkt mehr in der Dramaturgie eines Filmes darstellt, fehlt ihm, was nach Auffassung des Berliner Landgerichts an „Beruf Neonazi“ fehlte: die Stimme des Gottvaters, der ordnende Kommentar.
Schwachsinnigerweise ist ausgerechnet der Film, der die einzig passende Antwort auf diese Altherren-Greinerei gegeben hat, immer in einem Atemzug mit „Natural Born Killers“ genannt worden. Wo „NBK“ von sexuellem Mißbrauch redet, plaudert „Pulp Fiction“ von Fußmassagen; wenn Stone die Bilderflut angeekelt durchpeitscht, verschlingt Tarantino japanischen Trash zum Frühstück, wo Stone ein Mahner ist, ist Tarantino ein Fan. Und darauf einen Big Mac. Le Big Mac.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen