: Indiens Regierung sucht die verlorenen Wähler
■ Massive Regionalwahlniederlagen, Korruption und Schlappen vor Gericht bedrängen Premierminister Rao / Korruptionsverdächtige Minister entlassen
Delhi (ips/taz) – Auf Siege über die selbstgefällige und korrupte Politikerkaste können die Wähler und Bürgerrechtler Indiens 1994 zurückblicken. Bei den Wahlen in vier Bundesstaaten im November und Dezember lehrten sie die regierende „Kongreßpartei“ das Fürchten und zwangen die Altherrenmannschaft um Premierminister Narasimha Rao zu der schwer verdaulichen Einsicht, daß sich die kleinen Leute nicht alles gefallen lassen.
Schmerzhaft für die „Kongreßpartei“ waren vor allem schwere Niederlagen in den südindischen Bundesstaaten Karnataka und Andhra Pradesh. In Karnataka behielt die Regierungspartei nur 35 von 224 Sitzen. In Raos Heimatstaat Andhra Pradesh konnte die Regierungspartei sogar nur 25 von 292 Sitzen halten, gegen 218 für eine von einem Filmschauspieler geführte Regionalpartei. Seither ist die indische Regierung in der Krise, zumal die „Kongreßpartei“ in den nächsten fünf Regionalwahlen im kommenden Februar ebenfalls geringe Chancen hat.
Es war wohl der wachsende Druck der geballten Öffentlichkeit, der Rao am vergangenen Donnerstag das tun ließ, was für die meisten Inder mehr als überfällig war. Er entließ Gesundheitsminister B. Shankaranand, den Juniorminister für ländliche Entwicklung, Rameshwar Thakur, und Ernährungsminister Kalpnath Rai. Bis vor kurzem hatte er dem Triumvirat noch eisern die Stange gehalten und sich sogar im Parlament vor sie gestellt. Dabei waren Shankaranand und Thakur nach dem Befund einer offiziellen Parlamentskommission erwiesenermaßen Mitwisser wenn nicht Mittäter im bislang größten Finanzskandal Indiens. Nur so läßt sich einigermaßen pausibel erklären, wie führende Aktienhändler mit öffentlichen Geldern an der Börse spekulieren konnten.
Dem korpulenten Rai wird die Hauptschuld an der stümperhaften Abwicklung eines riesigen Zuckerimportgeschäfts gegeben. Ende 1993 erfuhr die Regierung, daß dem Land eine Zuckerknappheit drohte; Anfang März 1994 dann hob sie das staatliche Einfuhrmonopol auf. Die privaten Importfirmen reagierten schnell und dürften ihren Reibach gemacht haben. Der Staat ließ sich mehr Zeit; es wurden Zwischenhändler eingeschaltet, und bald wußte jeder auf dem Weltmarkt, daß Indien große Mengen Zucker benötigte. Dementsprechend hoch schossen die Preise. Das verpfuschte Geschäft kostete die Staatskasse mehr als 300 Millionen US-Dollar.
Narmada-Dammgegner vor Gericht erfolgreich
Doch der Zuckerskandal ist nicht der einzige Grund für die wachsende Unzufriedenheit indischer Wähler. Sie brachten damit auch ihren Unmut über die seit dreieinhalb Jahren währenden Wirtschaftsreformen zum Ausdruck, die der breiten Masse der Bevölkerung wenig gebracht haben. Und die Angst, die Macht zu verlieren, hat die Regierung tatsächlich von ihrer Liberalisierungspolitik abrücken lassen. Seit kurzem heißt die Devise „Marktwirtschaft mit menschlichem Anlitz“. Man müsse den goldenen Mittelweg zwischen völliger Freigabe des Marktes und staatlicher Reglementierung finden, lautet nun das Credo Raos.
Einigermaßen zufrieden mit dem Jahr 1994 können dagegen die Gegner des riesigen Narmada- Staudammprojekts in Westindien sein, das 150.000 Menschen aus 245 Siedlungen vertreiben wird. Indiens Oberstes Gericht ordnete die Veröffentlichung einer lange zurückgehaltenen Untersuchung unabhängiger Experten an, die das Bauvorhaben äußerst kritisch unter die Lupe nahmen. Die Richter wiesen die Behörden an, schlüssige Antworten auf die von den Fachleuten aufgedeckten Mängel und Versäumnisse des drei Milliarden US-Dollar teuren Projekts zu geben. Außerdem erzwangen die Anhänger der „Rettet die Narmada“-Bewegung (NBA) durch einen fast einmonatigen Hungerstreik eine Überarbeitung der Umsiedlungspläne.
Ob Rao bereits über vorgezogene Neuwahlen nachdenkt, ist momentan reine Spekulation. Fristgemäß werden die Inder erst Mitte 1996 an die Wahlurnen gebeten. Doch auch dann dürfte wahrscheinlich eine andere Regierung zustande kommen als die jetzige.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen