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„Gestern Nachbar heute Jude“ - in Brinkum

■ Schüler auf der Suche nach NS-Geschichte / Ausstellung erhielt Preis / „Die anderen haben wir nicht erreicht“

„Gestern Nachbar heute Jude“ heißt die Ausstellung aus Brinkum, die im Dezember 94 den ersten Schülerfriedenspreis des Niedersächsischen Kulturministeriums gewann und bis Ende Januar in der Gedenkatätte Buchenwaid zu sehen ist.

In 22 Ausstellungstafeln schilderten Schüler aus Brinkum in Wort und Bild die Kultur, Religion und einzelne Schicksale von Juden, die in Landkreis Diepholz lebten und in der Reichspogromnacht zum jüdischen Sonderlager in Buchenwald verschleppt wurden. Wie ihr Leben vor der Deportation aussah und was danach geschah, fanden die jungen Menschen heraus, nachdem sie lange im Archiv in Weye, Syke und der Gedenkstätte Buchenwald stöberten, Zeitzeugen aufsuchten und sie befragten.

Angefangen hat das ganze vor etwa zwei Jahren, als die elfte Klasse der Brinkumer Gesamtschule das KZ Buchenwald besuchte. Da fragten sich Lehrer und Mitarbeiter der Gedänkstätte, wie persönliche Nähe zu Ereignissen entsteht, die weit in der Geschichte zurückliegen.

„Wir dachten, wenn sich die Schüler mit den Leiden von konkreten Menschen auseinandersetzen, die nebenan gelebt haben, wird ein Stück Distanz schmelzen“, sagt Ilse Henneberg, Religionslehrerin, die das Projekt betreut. Es sollten nicht mehr die anonymen Juden sein, die in Buchenwald umkamen, sondern die Goldschmieds, Blocks und Semmelfelds, konkret und lebendig, aus der nahen Umgebung. Da erhofften sich die Lehrer Nähe, die betroffen macht und für den aufkommenen Fremdenhaß sensibilisiert.

„Der Anfang war ein muß“, sagt der Schüler Stefan W. zu dem Projekt in den Fächern Religion und Deutsch, „Ich hab trotzdem gern mitgemacht, weil mir konkretes Wissen über die Judenverfolgung gefehlt hat. Ich spürte das vor zwei Jahren, als ich in Israel schief angeguckt wurde, weil ich ein Deutscher bin. Außerdem wollte ich etwas gegen den Rechtsextremismus tun.“ Das hat Stefan durch ein Ausstellungsstück versucht: „Höre Israel“ steht in hebräischer Schrift auf den zerbrochenen Scheiben seines „Synagogenfensteres“. Dahinter hat Stefan eine Deutschlandkarte aufgehängt, mit den Namen von Opfern neonazistischer Anschläge. „Nur für Arier“ steht als Schild auf der Bank, die zu dem „Getrennten Tisch“ gehört, auch ein Ausstellungsstück. Auf die eine Hälfte des Tisches hat die Schülerin Kathrin S. die gutbürgerliche weiße Decke gelegt, auf der anderen Hälfte, die nackt ist, steht nur ein Häftlingsblechnapf. „Aus dem Nachbar von gestern ist heute ein Jude geworden“, lautet Kathrins Botschaft.

Wie sogar Verwandte zu Juden wurden, erfuhren die jungen Menschen aus Gesprächen mit Zeitzeugen. Heinrich Heger aus Syke erzählte ihnen zum Beispiel wie seine rassenbewußte arische Mutter nach dem Tod seines Vaters ihre jüdischen Schwiegereltern an die SS verriet. Kurz vor dem Kriegsende schickte sie ihren fünfzehnjährigen Sohn zu einem Arbeitsdienstlager. Er sollte unter großer Gefahr, daß ihn englische Soldaten dabei erwischen, die deutsche Reichekriegaflagge holen. Seine Mutter sagte zu ihm: „Wenn dich die Schweine erwischen, reiß dein Hemd auf und ruf: Hier, schießt in die Brust eines Deutschen“. Die Gespräche mit Zeitzeugen fand Stephan W. ergreifend, doch „irgendwie hat man das alles schon gehört“. Ihn und seine Mitschülerin Tanja H., beeindruckte viel mehr der Besuch in Buchenwald im April 1994, weil „man da die Atmosphäre richtig spüren konnte“.

Die Reise zurürk in die Geschichte begann für die Schüler schon am Weimarer Bahnhof. Nach Buchenwald gingen sie durch den so genannten „Judentunnel“, durch den auch die 20 Juden aus dem Landkreis Diepholz gingen (aus ganz Deutschland waren es 10.000), die in der Reichspogromnacht nach Buchenwald verschleppt wurden. Von ihrer Ankunft in Weimar erzählte Avram Avisar, der Buchenwald überlebte: „Wir wurden in einem Tunnel zusammengepfercht und unter Schreien, Fluchen, Schimpfen und Schlägen mit Karabinern der SS nach außen getrieben. Von dort aus wurden wir unter Prügeln, Drohungen und Befehlen in Lastautos gesteckt, in denen wir weiter geguält wurden, sobald wir eine falsche Bewegung machten. Ins Lager hinein liefen die Häftlinge durch ein Spalier von 55-Männern, die sie mit Stöcken und Eisensenstangen blutig schlugen. Durch blutverklebten Haaren sollten sie dann von anderen Häftlingen geschoren werden. Es folgte stundenlanges nasses und kaltes Warten auf dem Apellplatz: die Baraken des Jüdischen Sonderlagers waren noch nicht fertig. Mit einem Pfiff begann der Tag. SS-Befehle bestimmten seinen Ablauf. Wen kein Genickschuß traf, wer Hunger und Krankheit überlebte, durfte in acht Wochen zu seinem Heimatsort zurück.

Das städtische Armenhaus in Hoya war das neue Zuhause für die acht Männer aus dieser Stadt, die Buchenwald überlebten. Kein Telefon, kein Radio, keine Zeitungen. Nicht mal rauchen durften sie. Ihr Leben war ein ständiges Warten auf die Reise nach Auschwitz, die letzte Station. Ins Ausland zu fliehen, gelang ganz wenigen.

„Edel sei der Mensch, hilfreich und gut. Darum tötete er sechs Millionen Juden, Zigeuner, Polen und Russen, Schwule und Behinderte?“, fragte der junge Christian F. aus Brinkum betroffen, als er durch das KZ ging. Für ihn und seine Mitschüler hat das Aufleben der Geschichte keine Verstummung ausgelöst. Aus ihrer Betroffenheit entstanden Dedichte, die zu den Ausstellungstafeln gehören oder bei der Eröffnung am l0.November 94 vorgetragen wurden.

Daß die Ausstellung viel bewirkt hat, glaubt Stephan W. nicht: „Sie wird doch nur von Menschen besucht, die sowieso ausländerfreundlich denken. Die anderen haben wir nicht erreicht“. Dagegen sprechen jedoch die vielen begeisterten Briefe, die nach der Ausstellungseröffnung nach Brinkum kamen. Neue Zeitzeugen meldeten sich. Da einige Schüler daran interessiert sind, wird an dem Projekt weitergearbeitet. Demnächst wird eine Fahrt nach Ausschwitz geplant. Bald ist die Ausstellung auch in Bremer Umgebung zu sehen: ab Februar 95 werden die 22 Tafeln in der Gesamtschule Stuhr-Brinkum hängen. Antonia Ivanov

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