: Erna Thälmann: Bigotte Selbstgerechtigkeit -betr.: Leserbrief "Erna Thälmann", taz vom 4.1.95
Betr.: Lesebrief „Erna Thälmann“, taz 4.1.
Bigotte Selbstgerechtigkeit ist die Vorstufe zum Wahn. Schließlich wird der soziale Wandel nicht von irgendwelchen finsteren Mächten vorangetrieben, er wächst aus vielen kleinen Ursachen. Da geht dann die „Schickimickisierung“ des Viertels auch von euch aus. Denn wer zieht in den Laden ein, wenn der kleine Höker ihn wegen des Glasschadens und der steigenden Versicherungsprämie nicht mehr halten kann?
Für mich und für die meisten im Viertel gehört zur Demokratie, daß Menschen trotz verschiedener Ansichten miteinander friedlich leben. Für euch scheint es eher ein zukünftiges Wunderland, wo niemand das Wort Miete kennt und jeder selbstbestimmt mittags zum Frühstück sich das Döner Kebab in der Volxküche anschreiben läßt. Streng vegetarisch natürlich. Denn: Wirsing das Volk.
Ganz und gar Klein-Erna-mäßig forderst du, daß eure verkniffenen Meinungen und euer ausgebeulter Lebensstil auch noch Vorbild seien. Leider gibt's ein Pro- blem: Kaum jemand folgt euch freiwillig – mangels Attraktivität. Da greift ihr eben zur Gewalt. Das aber ist die Denke und das Handeln aller diktatorisch Veranlagten; ob nun religiös legitimiert, moralisch oder im vorgeblichen Auftrag einer stummen Natur, ob rassistisch wie im Nationalsozialismus oder „wissenschaftlich“ und sozial wie im Stalinismus – die Intoleranz hat immer den Dachschaden zur Folge. Gelegentlich ist's auch umgekehrt.
Sollte jedenfalls irgendwann einmal Herrschaft oder Frauschaft von diesen Zwangshandlungsgehilflnnen und Knallchargen ausgeübt werden, dann kümmert sich die Vernunft besser um Asyl im Iran oder sonstwo. Wer dieses moralinsaure Geeifer weiterhin „autononm“ und nicht „abgedreht“ nennt, leidet unter einem Sprachfehler. Denn sie benötigen und benutzen diese Gesellschaft in jeder Hinsicht.
Grußlos
Klaus Jarchow
P.S.: Frage an die taz; Wo bleibt zu Tschetschenien der Leserbrief von Ernst Busche?
Vorbemerkung: Grundsätzlich veröffentlichen wir anonyme Lesebriefe nicht - es sei denn, es gibt einen nachvollziehbaren Grund dafür, daß die Autorin/der Autor nicht mit ihrer/seiner Meinung in Verbindung gebracht werden möchte. Um der Diskussion über die Sylvester-Ereignisse willen haben wir gestern und heute eine Ausnahme gemacht. d. Red.
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