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Einmal Diktator von Deutschland sein

Für das Stammpublikum von Bayreuth eine Pflichtfahrt zum Festspielhaus, die Aufforderung an alle zum schwierigen Blick zurück und auf Plakatwänden die Parole „Liebt eure Töchter“  ■ Von Peter Ambros

Ich möchte für ein Jahr Diktator von Deutschland werden. Als erstes würde ich das Fernsehen verbieten. Dann würde ich einen Computervirus in Umlauf setzen, der sämtliche Datenträger formatieren müßte, auf denen sich Spiele fänden. Als nächstes würde ich alle Kneipen schließen lassen. Ich würde dann meine besten Freunde zusammenrufen und beauftragen, ein Jahr lang dafür zu sorgen, daß die Zufuhr und die Abfuhr des Wesentlichen klappt: Damit meine ich, daß die Bäcker Brot backen, die Bauern Kühe melken und die Müllmänner die Abfälle wegschaffen würden. Und dann würde ich mich auf den Weg machen.

Ich würde durch das Land ziehen und an die Türe klopfen. Wenn man mir aufmachte, würde ich sagen: „Hallo, ich bin Peter Ambros, der Diktator von Deutschland. Störe ich?“

Selbstverständlich würde ich nicht stören, sondern mit einer Mischung aus Neugierde, Ehrerbietung und Stolz hineingebeten werden. Als ein echter Ersatz für die vermißten „Tagesthemen“. Man würde mir einen guten Platz im Wohnzimmer anbieten und mich fragen, ob ich etwas zu essen oder zu trinken wünsche. Es würde eine angenehme, fast festliche und freundschaftliche Atmosphäre herrschen. Ich würde die Gastfreundschaft nicht ausschlagen, würde nur um etwas Vegetarisches bitten. Man würde mir etwas aus der Küche holen und sich bei der danach folgenden Konversation beiläufig erkundigen, von Diktator auf Führer assoziierend: „Essen Sie grundsätzlich kein Fleisch?“ „Das nicht“, würde ich höflich antworten, „ich darf aber nur koscheres Fleisch essen. Ich bin Jude.“

„Ich habe die Lösung, ich habe sie wirklich“

Nach dieser Auskunft würde das Freundschaftliche und zumal das Festliche aus der Atmosphäre verschwinden und mit einem Schlag je nach dem vom Betroffenen, Trotzigen, Flapsigen oder Mürrischen abgelöst werden. Ich würde unbeirrt meinen Rosenkohl zu Ende kauen und freundlich lächeln. Das würde zumindest bewirken, daß der Frost im Raum zu klirren aufhören würde. Sie würden begreifen, daß ich – obwohl Diktator und Jude – nicht als alttestamentarischer Rächer gekommen bin. Dann würde ich als Übergang etwas Belangloses erzählen und schließlich einen Witz – am besten einen über Auschwitz. Das würde die Atmosphäre endgültig lockern und das Eis brechen – kaum etwas ist in Deutschland so beliebt wie ein lachender Jude. Und dann könnte ich endlich loslegen.

„Ich habe die Lösung“, würde ich dann sagen, „ich habe sie wirklich. Ich weiß, daß sich hierzulande, wann immer ein Jude auftaucht und als solcher erkannt wird, gleich ein leichter Gasgeruch in der Luft breit macht. Ich weiß, daß ich Sie an etwas erinnere, das Sie gerne vergessen würden, und daß Sie meinen Anblick höchstens leidlich ertragen können, wenn ich fröhlich lache und Witze erzähle. Aber erstens kann ich nicht ständig lachen – schließlich bin ich auch als Diktator nur ein Mensch und habe meinen täglichen Streß –, und zweitens nehmen Sie mir Ihre böse Assoziation zu Unrecht übel. Denn es ist nicht meine, es ist die Ihrige. Und ich habe die Lösung wirklich.

Schuld an Ihrem Verhängnis ist in der Tat ein falsch ausgelegter Satz aus unserer Torah, die Sie das Alte Testament nennen. Sie werden jetzt bestimmt sagen, daß wir Juden wieder schuld sind. Aber ich kann Ihnen das Gegenteil beweisen. Der Satz, den ich meine, ist jener von Lots Weib und der Salzsäule. In der Torah, auf hebräisch, steht er so da, wie ihn Martin Buber übersetzte, nämlich – ,sein Weib blickte sich hinter ihm um und ward eine Salzsäule‘. Hierzulande ist er in der Fassung bekannt, wie sie Martin Luther übertrug, und die lautet – ,und sein Weib sah hinter sich und ward zur Salzsäule‘. Was der Unterschied ist, möchten Sie wissen? Ein riesiger Unterschied. Es war nicht der Blick zurück auf das brennende Sodoma und Gomorrha, der sie erstarren ließ, sondern der Blick auf ihren Mann. Sie mögen erwidern, das gäbe keinen Sinn. Aber die Bedeutung liefert uns ein weiser deutscher Rabbiner aus der Zeit vor mehr als 100 Jahren nach, Samson Rafael Hirsch mit Namen. Er erklärte: ,Indem sie stille stand, ward sie von dem ihr auf die Ferse folgenden Tode erreicht.‘ Also: durch ein einziges falsch übersetztes Wort setzte sich der Irrglaube durch, es sei tödlich, auf die vollzogene, in der Ferne liegende Katastrophe zurückzublicken. Und das Original besagt genau das Gegenteil, nämlich daß es tödlich ist, sich von der Katastrophe nicht schnell genug zu entfernen. Warum es das Gegenteil sei? Das liegt doch an der Hand: Wenn man nicht zurückschaut und sich die Dinge nicht genau ansieht, kann man nicht wissen, wie sie beschaffen waren, folglich kann man sich vor ihnen nicht gut schützen, wenn sie wieder nahen. Sie tun so, als hätten Sie mit alledem gar nichts zu tun, aber kaum tauche ich auf ohne ein fröhliches Lachen auf meinen Lippen, und schon ist Ihre Laune dahin. Und das Verrückteste daran ist, daß Sie tatsächlich mit alledem gar nichts zu tun haben. Sie wissen es nur nicht, weil Sie Angst haben, sich umzuschauen, und deshalb müssen Sie so tun, als ob.

Warum akzeptieren Sie eine große nationale Geschichte, ohne zuerst auf die eigene Familiengeschichte zu schauen? Sie haben doch Eltern und Großeltern, die damals lebten. Die meisten von ihnen sind in unterschiedlichem Maße schuldig. Warum laden Sie deren Schuld auf die eigenen Schultern, ohne zu wissen, wie groß sie war? Und warum wälzen Sie Ihr Unbehagen darüber, daß Ihnen der Mut fehlt, sie zur Rede zu stellen, auf mich ab? Na klar, eben deswegen.

Es ist einfach. Stellen Sie Fragen, auch wenn sie unangenehm sind. Keine Angst, Sie kriegen keine Haue, Sie sind schon groß. Auch um sie brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen: Erstens steht Ihnen das Recht auf die Wahrheit zu, zweitens helfen Sie auch ihnen, weil die unausgesprochene Wahrheit eine Last ist. Und wenn Sie auch keine Antworten kriegen – oder keine mehr kriegen können, weil jene, die sie geben könnten, schon tot sind –, dann stellen Sie die Geschichte einfach nach. Kramen Sie in alten Papieren und versuchen Sie Zusammenhänge herzustellen, zu begreifen. Wie alt waren mein Vater und mein Großvater, als am 20. Januar 1942 im Wannsee die Endlösung der europäischen Judenfrage beschlossen wurde? Kann er dabei gewesen sein in der Vilal Minoux? Nein? Na sehen Sie, da kommt schon die erste Erleichterung: Zum ersten Kreis der Verbrecher gehörte er schon mal nicht. Was war er von Beruf? Ein Richter? Hatte er Urteile wegen Rassenschande verhängt? Ein Arzt? Hatte er die Stelle eines herausgeschmissenen jüdischen Kollegen ergattert? Ein Elektroingenieur? Bastelte er in Peenemünde an den V-Raketen mit? Ein Chemieingenieur? Hatte er etwas mit dem ZyklonB zu tun? Ein Bahnangestellter? Hatte er seinen Beitrag für das lückenlose Funktionieren des Systems der Deportationen geleistet? Ein Ladenbesitzer? Hatte er den Besitz eines zur Emigration gezwungenen oder deportierten Juden arisiert? Wenn er Soldat war, wo und wann war er im Einsatz und bei welcher Waffe? Irgend etwas von alledem oder ein jeweils vollwertiger Ersatz wird schon greifen.

„Hassen Sie sie für einen Augenblick“

Was Sie dann tun, ist noch ein Stück schwieriger. Geben Sie vor sich selbst – wenn auch nur für einen Augenblick – zu, daß Sie von Ihren Eltern und Großeltern geistig verstümmelt wurden durch die Tatsache, daß sie Ihnen die ganze Wahrheit vorenthalten und durch das bequeme Schweigen Ihnen eine Mitschuld, oder zumindest eine so empfundene Mitverantwortung, aufgehalst haben. Hassen Sie sie für einen Augenblick – nicht für das, was sie anderen, sondern dafür, was sie Ihnen selbst dadurch angetan haben. Und nun kommt das Schwierigste. Versetzen Sie sich in deren Lage. Überlegen Sie sich, was Sie gemacht und wie Sie empfunden haben, als Sie so alt waren, wie sie damals. Was die Voraussetzungen sein mochten und wo die Schwächen lagen. Und dann versuchen Sie, ihnen zu verzeihen. Wenn Sie das hinter sich gebracht haben, sind Sie befreit.

Und so lange Sie es nicht tun, können Ihnen weder lachende noch Absolution erteilende Juden helfen, und schon gar nicht Historiker, die die große Geschichte zu umschreiben versuchen. Es können Ihnen auch die eigenen Ersatzversuche nicht helfen, krampfhaft zu jenen Ecken der Geschichte den Kopf umzudrehen, die mit Ihrem Problem etwas zu tun haben, nicht aber Ihr Problem sind – nämlich statt auf Ihre eigenen auf meine Eltern und Großeltern zu schauen.“

An dieser Stelle würde ich aus der Brusttasche an meinem Hemd den dort vorbereiteten Zettel herausholen und fortfahren:

„Ich lese Ihnen etwas vor, was vor ein paar Jahren ein Nobelpreisträger in Berlin gesagt hat, er heißt Elie Wiesel. ,Für Sie als junge Deutsche ist die Erinnerung nicht leicht. Sie ist womöglich noch schwieriger als für uns. Wir versuchen, uns an die Toten zu erinnern – Sie müssen sich an die erinnern, die sie getötet haben. Schmerzhaft sind diese Versuche beide – aber es ist nicht derselbe Schmerz. Ich schlage Ihnen vor: Öffnen Sie sich Ihrem Schmerz, so wie wir uns unserem geöffnet haben. Es fällt Ihnen schwer, zu glauben, daß Ihre Eltern und Großeltern solche Dinge getan haben? Mir auch. Denken Sie an die Folterer, so wie ich an die Opfer denke.‘“

In das hier eingetretene und betretene Schweigen hinein würde ich mich für den Rosenkohl bedanken und gehen. Ein Haus, eine Stadt weiter gehen. Noch kurz bevor das Jahr um wäre, würde ich dem Stammpublikum von Bayreuth eine Pflichtfahrt zum Festspielhaus verordnen, und neben „Kaiser von Atlantis“ von Viktor Ullmann dort nur noch Orchester- und Kammermusik von Gideon Klein, Hans Krása, Pavel Haas und Erwin Schulhoff hinter verschlossenen Saaltüren aufführen lassen. Unmittelbar bevor ich vertragsgemäß abdanken würde, ließe ich sämtliche Plakatwände des Landes mit dem Spruch bekleben „Liebt eure Töchter. Denn aus ungeliebten Töchtern werden liebesunfähige Mütter, und die sind das eigentliche Verhängnis der Nation.“

Ich weiß, mehr als einen Besuch am Tag würde ich nicht verkraften, und 365 Tage reichen für 80 Millionen nicht aus. Und wenn ich ehrlich bin – ich möchte kein Diktator werden und schon gar nicht von Deutschland. Aber vielleicht ginge es auch ohne...?

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