: Symptom-Blüten
Die Analytikerin und Literaturtheoretikerin Julia Kristeva über die neuen Leiden der Seele ■ Von Barbara Eisenmann
Seit fünf Jahren strapaziert der Suhrkamp Verlag nun schon die Geduld gewisser LeserInnen mit der Katalogankündigung von zwei inzwischen nicht mehr ganz so neuen Büchern von Julia Kristeva: „Schwarze Sonne. Depression und Melancholie“ (Paris 1987) und „Mächte des Grauens. Versuch über den Abscheu“ (Paris 1980). Da springt der Junius Verlag mit der Veröffentlichung einer Sammlung von Aufsätzen der bulgarischstämmigen Semiotikerin, Literaturtheoretikerin und Psychoanalytikerin aus den achtziger und neunziger Jahren mit dem Titel „Die neuen Leiden der Seele“ („Les nouvelles maladies de l'Ûme“, 1993) in die Bresche und befriedigt den Nachholbedarf ein wenig. Die deutsche Publikationspraxis spricht für sich selbst. Das nur fragmentarisch verbreitete Werk der seit 1965 in Paris lebenden Autorin hat hierzulande weder in der Sprach- und Literaturwissenschaft noch der Psychoanalyse mehr als marginale Folgen gezeitigt.
Am ehesten dürfte Kristeva wohl aus dem Zusammenhang feministischer Theoriediskussionen der siebziger Jahre bekannt sein, als eine Reihe von französischen Theoretikerinnen antrat, die des Meisters Lacan Rede von der nicht existierenden „femme“ – die ausgeschlossen ist „von der Natur der Dinge, die die Natur der Wörter ist“ – zum Ausgangspunkt theoretischer Überlegungen nahm, die um das Verhältnis der Frau zur Sprache, zum Diskurs, zur symbolischen Ordnung kreisten. Gerade als Feministin läßt Kristeva sich indes nur schwer vereinnahmen. Begriffe wie mütterlich, männlich, weiblich, phallisch etc. beschreiben lediglich vorläufige symbolische Setzungen, die männlichen und weiblichen Subjekten gleichermaßen offenstehen.
Kristeva postuliert ein poröses Subjekt, ein Subjekt als Prozeß, das sich immer wieder neu in der Auseinandersetzung der symbolischen Ordnungsstrukturen mit einem Heterogenen – Libido, Wunsch, Trieb, Affekt, der Namen hat es viele – entwirft. Jedem seine eigene Diskursökonomie, die Kristeva in literarischen Texten und im Reden ihrer Patienten aufspürt. Statt vom Subjekt zieht sie es vor, von Formen der Subjektivität zu sprechen, die instabil und provisorisch sind, jedoch losgekoppelt vom gesellschaftlichen und historischen Zusammenhang nicht analysiert werden können.
Wie also sieht es aktualiter mit psychischen Organisationsformen aus, wo insbesondere die Naturwissenschaften den Tod der Seele schon bald zu verkünden hoffen? „Haben Sie eine Seele? ... Gibt es noch eine Seele angesichts von Neuroleptika, Aerobic und Medienüberflutung?“ fragt die Autorin gleich zu Beginn ihres ersten Aufsatzes, der TeilI der Sammlung mit dem Titel „Psychoanalyse“ eröffnet. Wo Fernsehen, Drogen und Pharmaka zum gesellschaftlich verordneten Seelenersatz werden, treibe die Seele ganz neue symptomatische Blüten, so die Diagnose der Psychoanalytikerin Kristeva. Die Unfähigkeit zu symbolisieren, die Schwierigkeit der Repräsentation, das ist es, was sie der zeitgenössischen Psyche attestiert. An eingeschobenen Analysefragmenten aus der eigenen Praxis zeigt sich, wie sich die theoretische Einbildungskraft der Autorin an den Patienten bewährt und metapsychologisches Lustwandeln zu behandlungspraktischer Applikation wird. Dabei müssen die Diskurse nicht einmal gewechselt werden. Denn um Sprache und Psyche hat Kristeva inzwischen einen komplexen Diskurs angelagert, der fallgeschichtliches, literarisches und philosophiegeschichtliches Material mit (psycho-)analytischem Scharfsinn zu verweben vermag. Ganz der etymologischen Bestimmung des Wortes Dis-cursus verpflichtet – einer Bewegung des Hin-und-her- Laufens, des Kommens und Gehens, wie ihr Freund/Lehrer/Verehrer Roland Barthes die Wortbedeutung verstand. Und in eben dieser Bewegung gelingt es ihr gar, in Sprache Außersprachliches flottieren zu lassen.
Für Kristeva, und da ist sie Freudianerin mit Haut und Haaren, erschließt sich das Reden des Subjekts eben nur von seinem Triebgeschehen her. Ihr Triebverständnis ist allerdings ein zeitgemäßes, der Trieb entmystifiziert, durchaus kompatibel mit Ergebnissen aus Neurobiologie, Säuglingsforschung, Kybernetik. Hier zeigt sich die Praktikerin Kristeva. Als Dimension des Sinns artikuliert sich der Trieb translinguistisch beispielsweise auf der Ebene der Stimme als Rhythmus und Intonation. Triebe sind sensorische Erinnerungsspuren und als solche der Bedeutung der Rede immer schon vorgelagert. Dem Unformulierbaren zur Rede zu verhelfen, so vermeintlich schlicht umschreibt sich dann die Aufgabe der Psychoanalytikerin und auch der Autorin Kristeva.
In TeilII der Aufsatzsammlung, „Geschichte“ genannt, spricht Kristeva, die Texttheoretikerin. Gefragt wird nach dem Subjekt in seiner historischen Dimension. Schon im alttestamentarischen Erzähler spürt Kristeva ein sprechendes Subjekt auf und lokalisiert im biblischen Text verschiedene für die abendländische Psyche charakteristische Beziehungsmodalitäten. Leichtfüßig und virtuos durchquert Kristeva das Textuniversum: entdeckt im Johannes-Evangelium die „Rehabilitierung der Affekte“, macht im romanhaften Schreiben vom 15. bis 18. Jahrhundert eine adoleszente Dynamik aus, liest den Katholiken Joyce als Agitator des Imaginären und klopft das Abenteuer der Analysandin Freuds und späteren Analytikerin Helene Deutsch auf seine revolutionären, weiblichen und künstlerischen Komponenten ab.
Im letzten und frühesten Aufsatz (1979) der Sammlung läßt sich noch einmal Kristevas ganz eigene Stellungnahme zum Feminismus nachlesen, die sie in einem Interview einst, 1977, folgendermaßen auf den Punkt brachte: „Zu glauben, ,eine Frau zu sein‘, ist fast ebenso absurd und obskurantistisch wie zu glauben, ,ein Mann zu sein‘.“
Irgendwie war sie ihrer Zeit immer schon voraus.
Julia Kristeva: „Die neuen Leiden der Seele“. Aus dem Französischen von Eva Groepler. Junius Verlag 1994, 266 Seiten, 42 DM.
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