: Wer löst General Gratschow ab?
Heute diskutiert in Moskau die Staatsduma über den Tschetschenien-Krieg / Jelzin wird seine bisherigen Ratgeber dabei nicht opfern, denn andere Unterstützung hat er nicht ■ Von Boris Schumatsky
Es herrscht keine Weihnachtsstimmung in Moskau. Die Miliz- Patrouillen, von bewaffneten Soldaten begleitet, kontrollieren die Passanten. An jeder Einfahrt in die Stadt und an der Ringautobahn stehen neben den Posten der Verkehrspolizei die gepanzerten Armeewagen mit schweren MG. In der Metro passen die Fahrgäste auf, daß keiner seine Tasche liegenläßt: Man befürchtet tschetschenische Vergeltungsanschläge. Und man hat Angst vor dieser Überrepräsentation der Staatsmacht, vor einem möglichen Staatsstreich. Gerüchte gehen schon lange um.
So deutete der letzte Verteidigungsminister der Sowjetunion, Marschall Schaposchnikow, an, hinter der autoritären Wende Jelzins stünden neben dem Chef des präsidialen Sicherheitsdienstes, Korschakow, der erste Vizepremier Soskowez und der Vorsitzender des Sicherheitsrates, Skokow. Sie sollten schon seit Monaten gegen Premierminister Tschernomyrdin intrigiert und ihn fast zum Rücktritt gezwungen haben.
Tatsächlich hat sich Tschernomyrdin seit Beginn des Tschetschenien-Krieges nur selten in der Öffentlichkeit gezeigt. Man kann vermuten, daß er den militärischen Einsatz nicht unterstützt. Am Montag abend hat er dann die Anweisung gegeben, einen Waffenstillstand mit Tschetschenien zu vereinbaren. Gegenüber dem Menschenrechtler Sergej Kowaljow gestand der Premier, er „stieße auf Widerstand der Armee“.
Das Angebot aus Moskau haben die Militärs jedoch in sein Gegenteil vewandelt. Sie stellten gestern ein Ultimatum: „Alle Teilnehmer illegaler bewaffneter Verbände sollten die Waffen abgeben und ihre Stellungen verlassen.“ Kein Wort über die Dutzenden von Leichen, die seit Tagen auf den Straßen Grosnys liegen, geschweige denn von einem möglichen Gefangenenaustausch. Und dabei handelt es sich hauptsächlich um russische Gefallene. Der Kriegsreporter der Zeitung Iswestija sagte, die angreifenden russischen Panzer fahren über die Leichen eigener Soldaten.
Das schnelle Ende des Waffenstillstands – nach nur zwei Stunden Feuerpause wurde wieder geschossen – scheint Verteidigungsminister Gratschow und der Leitung der Militäroperation nur recht zu sein. Auf diese Weise wird ihre militärische Blamage und die von ihnen in Kauf genommenen immensen Opfer vertuscht. Die Gefallenen werden einfach als vermißt gemeldet.
Heute wird sich die Staatsduma mit der Situation in Tschetschenien beschäftigen. Es ist aber unwahrscheinlich, daß Jelzin hier seine Verbündeten opfert. Gestern ernannte der Präsident die Vorsitzenden der beiden Parlamente zu ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates. Dadurch wird die Gewaltenteilung – eine der politischen Errungenschaften Jelzins – teilweise außer Kraft gesetzt. Wenn die beiden die Duma beruhigen, kann der Sicherheitsrat zu einem Politbüro sowjetischer Art werden.
Dennoch wird Gratschow in Moskau immer schärfer kritisiert. In einem Interview mit „Radio Liberty“ erzählte Schaposchnikow, im Mai 1992 hätte Gratschow ein Telegramm an den Kommandanten des nordkaukasischen Militärbezirks geschickt. In diesem habe er die Übergabe von 50 Prozent der sowjetischen Waffen an Dudajew angeordnet. Sogar die Hardliner aus der Umgebung Jelzins versuchen jetzt, sich von Gratschow zu distanzieren. So soll Korschakow „ganz empört“ gewesen sein, als ihm ein Tschetschene erzählte, wie unprofessionell die russische Armee kämpft. Die einzige Chance für Gratschow, seinen Posten zu behalten, ist möglichst schnell Grosny zu besetzen.
Diesen Sieg braucht Jelzin dringend. Seine Lage wird immer schwieriger. Der Präsident steht vor der Wahl, entweder seine autoritäre Politik weiter zu verschärfen oder zu einem demokratischen Image zurückzukehren. Das erste würde ein totalitäres, vielleicht ein Militärregime bedeuten. Dazu regen Jelzin die drei genannten Hardliner an. Aber ein Partisanenkrieg im Kaukasus, die Einführung der Zensur, Verhaftungen der Regimekritiker und – als Folge – die Sperrung westlicher Kreditlinien scheint keine lukrative Perspektive für den Präsidenten zu sein.
Bei der zweiten – demokratischen – Variante müßte Jelzin den militärischen Flop und die unnötigen Opfer den Militärs in die Schuhe schieben. Dennoch hätte er aber das Problem, daß die demokratischen Kräfte des Landes sich nicht mehr mit dem Präsidenten identifizieren. In der Duma unterstützen nur die Ultranationalisten seine Kriegspolitik, und in der Bevölkerung herrscht Politikverdrossenheit. So gut wie keiner würde für Jelzin auf die Straße gehen, und so wäre er auf die Unterstützung der um Moskau stationierten treuen Truppen und der paramilitärischen Verbände seines Sicherheitschefs Korschakow angewiesen. Auf die Kräfte also, die um jeden Preis an die Macht wollen – mit oder ohne Jelzin.
Für diese Drahtzieher des tschetschenischen Krieges und für Gratschows Leute im Verteidigungsministerium geht es jetzt um alles. Seit Wochen spekulieren die Medien über die Kandidaten für den Posten des Verteidigungsministers. Zuerst wurden die Gegner des kaukasischen Krieges genannt: der Leiter des Rückzugs aus Afghanistan, Boris Gromow, und Generalstabchef Michail Kolesnikow.
Heute ist Konstantin Kobez der Favorit. Kobez war während des Augustputsches 1991 Jelzins Verteidigungsminister und Leiter der Verteidigung des Weißen Hauses. Damals hat er seine Treue zu Jelzin bewiesen. Am Montag ist Kobez in die Dnjestr-Republik geflogen, um mit dem effizientesten Kritiker des Tschetschenien-Abenteuers, General Lebed, zu sprechen.
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