■ Pro Jahr 100.000 Vermißte: Nach 30 Jahren Suche wird „ausgesondert“
Uli Kuhnle ist einer von 1.901 Erwachsenen, die 1984 in Westberlin als vermißt gemeldet wurden. Berlin nimmt unter den deutschen Großstädten eine traurige Spitzenreiterrolle ein. Werden in Berlin jährlich etwa 6.500 Vermißtenanzeigen aufgegeben, sind es in München vergleichsweise nur 1.500. Statistisch gesehen verschwinden jedes Jahr die Bewohner einer mittelgroßen Stadt. Bundesweit ist die Zahl mit etwa 100.000 Vermißten pro Jahr mehr oder weniger konstant. Am 1. September letzten Jahres registrierte das Bundeskriminalamt (BKA) in Wiesbaden beispielsweise 6.763 Vermißte. Diese Zahl wird alle zwei Tage im Online-System aktualisiert, in das die einzelnen Bundesländer die entsprechenden Daten dezentral eingeben und abfragen können. „Während wir telefonieren“, so BKA-Pressesprecher Jürgen Stoltenow, „ist vielleicht ein Vermißter wieder da, und drei andere verschwinden.“ Die Aufklärungsrate liegt bei 99, „wenn nicht sogar 99,9 Prozent“, so Stoltenow. Wird eine Vermißtenanzeige aufgegeben, geht sie nach zehn Tagen von der örtlichen Direktion an die zentrale Vermißtenstelle des Landeskriminalamtes. Gibt es keine Hinweise auf ein Verbrechen oder Selbstmord, beginnt die Polizeiroutine: Nachfragen bei der Krankenkasse, dem Landeseinwohneramt, der Bank, im Wohn- und persönlichem Umfeld.
Ein mehrseitiges Formular mit persönlichen Daten, unveränderlichen Körpermerkmalen wird ausgefüllt, Röntgenbilder und Gebißschemata beigelegt. Denn in erster Linie werden die Vermißtendateien geführt, um sie mit der Liste der unbekannten Toten zu vergleichen, die irgendwo ohne Papiere aufgefunden wurden. Derzeit gibt es in der Bundesrepublik 1.009 nicht identifizierte Personen in dieser Liste. Jede Vermißtenanzeige wird dreißig Jahre lang bei der Polizei aufbewahrt, dann werden die Daten gelöscht. „Aussonderung“ ist der offizielle Begriff dafür.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen