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„Es war alles ganz normal“

Seit zehn Jahren vermißt eine Familie aus Schwäbisch-Gmünd ihren Sohn. Am schlimmsten ist die Ungewißheit: Wovor ist er geflüchtet?  ■ Von Barbara Bollwahn

„Ich gehe jetzt reisen und arbeiten.“ Das sind die letzten Worte, die Otto Kuhnle im April 1984 von seinem Sohn Uli aus Berlin hörte. Der Vater hatte keine Zeit, ihm Fragen zu stellen. Das Wartezimmer des Internisten in Schwäbisch- Gmünd war voll. Ihm blieb nur Zeit, seinem damals 23jährigen Sohn ans Herz zu legen, seine Ausbildung als Krankengymnast doch zu Ende zu machen. Etwas beunruhigt über den Anruf seines jüngsten Sohnes rief er in der Mittagspause bei seinem gleichnamigen Sohn Otto in Berlin an. Er bat ihn, bei Uli vorbeizuschauen. Aber auch der Bruder versuchte vergeblich, Uli zu erreichen.

Es war seine Frau, die Uli zum letztenmal gesehen hat, wenige Tage vor seinem Verschwinden. „Es war alles ganz normal“, erinnert sie sich. Nach dem Schwimmen war er auf einen Sprung vorbeigekommen, um etwas abzuholen. Am 3. April telefonierte Uli noch mit seiner ältesten Schwester. Doch auch die Ärztin erfuhr nicht mehr, als daß ihr Bruder „auf Reisen“ gehen werde. Seitdem verliert sich die Spur von Uli, der als sensibel und zurückhaltend beschrieben wird.

Eine Erklärung für das plötzliche Verschwinden des heute 34jährigen hat die Familie nicht. Dafür aber um so mehr vage Vermutungen. Der 76jährige Vater könnte sich vorstellen, daß Uli, der Anfang der 80er Jahre nach Berlin gegangen war, um der Bundeswehr zu entgehen und zu studieren, „Muffe vor dem Examen“ als Krankengymnast gehabt habe. Er hatte ein abgebrochenes Deutsch- und Sozialkundestudium hinter sich, und eine seiner Schwestern hatte ihre Ausbildung als Krankengymnastin bereits abgeschlossen. Da Uli „eigentlich nicht so sehr viel gearbeitet hat“, so der Vater, könne es sein, daß er Angst vor der „Häme der anderen Geschwister“ gehabt habe, falls er die Prüfungen nicht bestehen sollte.

Auch der drei Jahre ältere Bruder Otto hatte damals den Eindruck, daß Uli Angst habe, seine Ausbildung nicht zu schaffen. Er erinnert sich, daß Uli zu der Zeit „sehr unzufrieden und labil“ war. Viel mehr jedoch weiß er nicht über die letzten Wochen vor Ulis Verschwinden, da sich die Brüder weniger als sonst gesehen haben. Als Otto nach Berlin kam, hat er die ersten sechs Monate bei Uli gewohnt, sie haben gemeinsam Musik und Straßentheater gemacht, viel zusammen unternommen. Als Otto aber für seine Ausbildung an der Artistenschule lernte und nachts in einer Band spielte, „sich um seine Sachen kümmerte“, sahen sie sich zwangsläufig weniger. Der Bruder glaubt, daß Uli, das jüngste von fünf Geschwistern, nicht damit klargekommen ist, daß alle in seinem Umfeld – Geschwister, Bekannte und Freunde – mehr oder weniger zielstrebig ihre Pläne verwirklicht haben. „Ich kann mir vorstellen, daß man in eine Situation kommt, aus der man nicht mehr rauskommt“, sagt der Artist.

Ein Jahr vor Ulis Verschwinden war sein Vater noch mit ihm im Allgäu wandern. Danach haben sie nur gelegentlich telefoniert. Das Vertrauensverhältnis sei nicht besonders innig gewesen, sagt der Vater, eben so, wie das bei jungen Leuten ist, die ihre eigenen Wege gehen. Die letzten Monate vor Ulis Abtauchen habe seine Frau vergeblich versucht, Uli zu erreichen. Daß er seine Gitarre und Geige in der Kreuzberger Wohnung zurückgelassen hat, kann sich der Vater überhaupt nicht erklären. Denn Musik ist für Uli sehr wichtig gewesen. Auch den Bruder hat das „tierisch verwundert“. Die Wohnung hat er noch drei Jahre lang gehalten, bis er sie schließlich an einen Freund vermietet hat. Deshalb glaubt Gertrud Morawietz, die „gute Seele des Hauses“ in der Kreuzberger Kloedenstraße, daß Uli bis vor etwa sechs Jahren noch bei ihr im Haus gewohnt hat. Er habe ihr erzählt, er wolle zu einem Freund nach Neukölln ziehen. Gertrud Morawietz, die seit siebzehn Jahren in der Kloedenstraße wohnt, erinnert sich noch an Uli, der in der Parterrewohnung im Hinterhof wohnte: „Er war ein netter Junge. Einmal hat er mir eine Steckdose gelegt.“

Die Schwägerin, die seit 13 Jahren in Berlin lebt, ist überzeugt, daß der Bruder ihres Mannes nicht mehr in der Stadt ist. Dann hätten sie ihn sicher ausfindig gemacht. In dieser Hinsicht sei Berlin ein Dorf. „Vielleicht lebt er ja im Ausland.“ Sie habe gelesen, daß die Rückkehr um so schwerer werde, je länger jemand wegbleibe. Denn jedes Jahr ohne Lebenszeichen erhöhe den Erklärungsbedarf. Vielleicht ist er aber auch in einer Landkommune abgetaucht oder hat Selbstmord begangen? Auch der Vater kann nur spekulieren. „Wegen 600 Mark ist schon jemand um die Ecke gebracht worden“, sagt er – sein Sohn hatte kurz nach seinem Verschwinden sein Konto leergeräumt, auf dem sich etwa 600 Mark befunden haben.

Obwohl Uli seiner Meinung nach nichts mit Sekten am Hut hatte, kann er nicht ausschließen, daß er mit einer in Berührung gekommen ist. Vielleicht hat ihn ja ein dubioses Angebot gereizt, etwas von der Welt zu sehen. Der Vater weiß es nicht. Auch über die damalige Freundin seines Sohnes, die im gleichen Haus wie Uli gewohnt hat, weiß er nicht viel. Nur daß die Beziehung, die „sicherlich intim war“, nicht so gewesen ist, daß sich die beiden wirklich ausgetauscht hätten. Nach Ulis Verschwinden hat sie den Eltern einige Postkarten geschrieben mit „wirrem Zeug“. Der Vater vermutet, daß Drogen dahinterstecken. Uli dagegen habe keinen Alkohol getrunken, und daß er Rauschgift genommen habe, glaubt er nicht.

„Ganz ohne Grund verschwindet niemand“, sagt Jürgen Knobel, Leiter der Vermißtenstelle des Landeskriminalamtes (LKA) in Berlin. Oftmals seien es Schulden oder familiäre Probleme, vor denen Menschen einfach weglaufen. Manchmal können es aber auch Kleinigkeiten sein, die sich im nachhinein niemand erklären kann. Scheinbar unwichtige Bemerkungen wie „Das Maß ist voll“, „Ich pack das nicht mehr“ könnten ein Indiz dafür sein. „Auch wenn die Umstände des Verschwindens ominös sind, muß man nicht immer gleich das Schlimmste annehmen“, so Knobel.

Sehr wichtig sei es, daß die Angehörigen die Angelegenheit nicht verdrängen. „Man darf sich nicht in den Fernsehsessel legen und warten, daß die Polizei den Vermißten zurückbringt“, klärt er über die „Mitwirkungspflicht“ der Angehörigen auf. Im Fall Kuhnle ein unnötiger Appell.

Die Nachforschungen der Berliner Polizei hatten damals ergeben, daß Uli, der als nett und freundlich beschrieben wurde, an der Krankengymnastikschule zu niemandem richtig engen Kontakt gehabt hat, daß er kaum Besuch in seiner Wohnung empfangen und ziemlich zurückgezogen gelebt hat. Noch jetzt fragt die Polizei einmal im Jahr pro forma beim Landeseinwohneramt (LEA) nach. Auch der Vater ruft in regelmäßigen Abständen „pro forma“ bei der Polizei an. Das letzte Mal fragte er 1992 nach, ob es neue Erkenntnisse über den Verbleib seines Sohnes gebe. Wie so oft, war die Auskunft negativ. Auch die spärlichen Hinweise, die auf diverse Suchanzeigen in Zeitungen eingegangen sind, waren nicht zu gebrauchen. Einmal glaubte jemand, einen Mann in der U-Bahn gesehen zu haben, der Uli ähnlich gesehen habe. Auf die letzte Anzeige, die der Vater vor einigen Wochen in der taz aufgab, meldete sich ein Reiseleiter, der glaubte, Uli vor zwei Jahren bei einer Tour durch die Pyrenäen gesehen zu haben.

Familie Kuhnle hat in den zehn Jahren nichts unversucht gelassen, um eine Spur von Uli zu finden. „Wir haben so ziemlich alles unternommen“, sagt die Frau von Bruder Otto. Kurz nach seinem Verschwinden hat sie gemeinsam mit ihrem Mann sämtliche Freunde und Bekannte befragt, Suchzettel in Kneipen verteilt. Im Laufe der Jahre haben sie mehrere Zeitungsanzeigen mit Foto aufgegeben, auch in der Bild, da viele Deutsche diese im Urlaub im Ausland lesen. Bruder Otto ist sogar in einer Suchsendung im Fernsehen aufgetreten, der Vater versuchte über das Auswärtige Amt Nachforschungen in Irland, Griechenland und Italien anzustellen. Länder, in denen Uli Urlaub gemacht hatte. „Der Bub ist in der internationalen Fahndungsliste drin“, sagt der Vater, als wolle er sich selbst beruhigen.

Ende letzten Jahres fuhr der 76jährige nach Berlin, um im Archiv der taz Zeitungen von 1984 zu lesen, aus der Zeit, als sein Sohn verschwunden ist. Er hatte die vage Hoffnung, auf irgend welche Anhaltspunkte zu stoßen, die seinen Sektenverdacht erhärten. Das einzige jedoch, was der Vater mit nach Schwäbisch-Gmünd mitnehmen konnte, war die Information, daß „Nicaragua damals in Mode war“, eine Einreise jedoch nicht möglich war.

Vielleicht etwas enttäuscht über die magere Ausbeute, jedoch keineswegs entmutigt, wandte er sich vor wenigen Wochen an den Berliner Sektenbeauftragten, in der Hoffnung, etwas darüber zu erfahren, welche Sekten 1984 in Berlin auf Mitgliederfang waren. Nach dem Gespräch mit dem Sektenexperten erschien ihm sein Verdacht jedoch noch unwahrscheinlicher. Denn normalerweise, so der Fachmann, wollen Sekten Geld, das die Mitglieder oftmals versuchten, von ihren Angehörigen zu bekommen.

So engt sich das Feld der vagen Vermutungen ein, und die zermürbende Ungewißheit bekommt noch mehr Spielraum. „Nach zehn Jahren denkt man an fast alles“, so der Bruder Otto. Immer wieder stellen sich die Eltern und Geschwister die gleiche Frage: Lebt er noch oder nicht? Noch heute läuft seine Schwägerin in Berlin „irgend welchen Männern“ hinterher, weil sie glaubt, in ihnen Uli zu erkennen. „Das Brutale bei Vermißten ist, daß man nicht weiß, ob sie noch leben“, sagt sie.

Neben der offiziellen Statistik gibt es eine vermutlich hohe Dunkelziffer. Das sind Vermißte, die, aus welchen Gründen auch immer, von ihren Angehörigen nicht bei der Polizei gemeldet werden, und volljährige Vermißte, die die Polizei erst gar nicht aufnimmt. Denn im Unterschied zu Kindern und Jugendlichen dürfen Erwachsene abhauen. Nach Ablauf von zehn Jahren können die Angehörigen eine Person für tot erklären lassen. Oftmals ein schwerer Entschluß, der wegen Rentenansprüchen oder Erbschaftsangelegenheiten unumgänglich ist.

Bei den Eltern und Geschwistern von Uli Kuhnle hat sich nach zehn Jahren ohne ein Lebenszeichen des Sohnes und Bruders eine gewisse Abgeklärtheit eingestellt. Der permanente Schmerz ist nicht mehr allgegenwärtig. Aber ihn für tot erklären lassen? Ausgeschlossen. „Dann kriegen wir ja erst recht keine Nachricht“, sagt der Vater.

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