: Götter brauchen keinen Beifall
Kathakali: ein indisches Tanzdrama. Jedes Kind kennt hier die Gottheiten ■ Von Melanie Halligan
Wieder einmal suchen wir nach dem richtigen Weg. Unser Begleiter Sunil hat sich erfolgreich zu dem Dorf durchgefragt, in dessen Tempel heute nacht ein Kathakali- Tanzdrama aufgeführt werden wird. Es wird dunkel. Straßenbeleuchtung gibt es nicht. Wir stehen etwas ratlos an einer Kreuzung. Zwischen den Palmen weht Musik zu uns herüber. Der Tempel muß ganz in der Nähe sein. Der Fahrer unseres Wagens ist aber zunächst nicht dazu zu bewegen, sein gepflegtes Fahrzeug einen dubiosen Feldweg entlangzufahren. Ihm sind bestimmt Kunden lieber, die sich mit den Veranstaltungen zufriedengeben, die vom Tourismusministerium in den leicht erreichbaren, bekannten Auditorien und Tempeln der Städte speziell für ausländische Besucher organisiert werden. Einfallsreichtum und Improvisation sind indische Stärken. Nachdem der Fahrer und Sunil vergeblich versucht haben, den Weg mit Streichhölzern zu erhellen, wird kurzerhand der nächste Fahrradfahrer angehalten. Sie weisen ihn an, in die Pedale zu treten. Mit Hilfe seines Dynamos wird immerhin ein Meter des dunklen Feldweges erleuchtet. Vergeblich weisen wir darauf hin, daß die Scheinwerfer des Autos besser zur Illumination geeignet wären. Anscheinend hat der Fahrer jetzt aber genug gesehen und ist bereit, die Fahrt in die Dunkelheit zu wagen. Über Wurzeln, Stock und Stein holpern wir die letzten Kilometer auf den Tempel zu, der mitten im Wald liegt.
Die Szenerie ist von gleißendem Neonlicht erhellt. Für Tempelfeste werden weder Kosten noch Mühen gescheut. Aus zahlreichen Lautsprechern schallt Musik durch den Wald. Vor dem Tempel singen weißgekleidete Brahmanen-Priester sich und die Versammelten in Stimmung. Die Gottheiten sind von unzähligen Öllämpchen erleuchtet. Die Luft ist schwer vom Duft der Räucherstäbchen und Blüten. Später werden die Türen der göttlichen Residenzen geschlossen und alle Aufmerksamkeit wird sich auf das Tanzdrama konzentrieren.
Die Vorbereitungen hinter der provisorischen Bühne laufen seit Stunden auf Hochtouren. Zuschauer sind dabei erwünscht. Die Schminkprozedur und das Ankleiden der Tänzer dieses uralten südindischen Tanzdramas gleicht einem heiligen Ritual. Mit unendlicher Geduld und unerschütterlicher Ruhe arbeitet der Make-up- Künstler Krishna beim Schein der Öllampen. Die natürlichen Farbpigmente aus Steinen und Pflanzen – leuchtend grün, blutrot, strahlend gelb, gleißend weiß, tiefschwarz – werden mit Wasser und Öl auf Bananenblättern angerührt und mit viel Fingerfertigkeit auf die Haut aufgetragen. Schicht um Schicht, Muster um Muster, bis die Gesichter völlig verfremdet sind und die Züge der neun Grundcharaktere angenommen haben. Jedes Kind kennt hier die Gottheiten, Helden, Heiligen und Dämonen und ihre Geschichten. Alle Rollen, auch die der Frauen, werden von Männern gespielt.
Obwohl die Musik hier, unmittelbar hinter den Lautsprechern, ohrenbetäubend ist, laufen die Vorbereitungen in meditativer Ruhe ab. Jeder Handgriff sitzt. Jahrzehntelang dauert die Ausbildung. „Und eigentlich lernt man nie aus“, versichert Krishna, ohne von seiner Arbeit aufzublicken. Auch das Ankleiden ist eine faszinierende Prozedur. Aus vielen Kisten, Schatullen und Bündeln ziehen Ankleider farbenprächtige Stoffbahnen und glitzernden Schmuck heraus. Zum Teil sind mehrere Helfer notwendig, um die aufwendigen Kostüme um den Künstler zu drapieren. Stoffschicht um Stoffschicht wird ein phantastisches, voluminöses Gewand kreiert. Kein Körperteil bleibt ungeschmückt. Inmitten dieses Tohuwabohus schlafen Künstler, die ihren Auftritt erst viel später haben, völlig entspannt und ungestört. Ein fertig geschminkter Schauspieler lächelt enigmatisch. Ist das Lächeln echt oder angemalt? I-Tüpfelchen und letzter Schritt: Der Zeremonienmeister holt eine kleine Dose aus seiner Tasche und reicht dem Schauspieler ein paar Pflanzensamen. Der legt sie in seine Augen und blinzelt ein paarmal. Sofort werden die Augen feuerrot, was die Ausdruckskraft erhöht und die akrobatischen Augenbewegungen noch deutlicher hervorhebt. Angeblich soll dies nicht mit Schmerzen verbunden sein.
Der Klang des Muschelhorns kündigt den Beginn der Vorstellung an. Vor der Bühne sitzen jetzt Hunderte von Dorfbewohnern aus der Umgebung, Männer, Frauen, Kinder, im Gras und blicken gebannt auf die Bühne. Noch hat sich der rote Vorhang nicht gehoben. Zwei Schauspieler stehen dahinter. Ihre langsamen Bewegungen wirken wie ein Gebet. Dann steigert sich der Trommelwirbel. Ein Baldachin erhebt sich, und der Vorhang wird zur Seite gezogen. Die maskenhaften Gesichter der beiden Künstler erwachen zum Leben. Jedes Gesichtsteil scheint sich unabhängig vom anderen zu bewegen. Der Rhythmus der Trommeln steigert sich wieder und der Tanz beginnt.
Genau festgelegte Bewegungen von Kopf bis Fuß, die eine unglaubliche Körperbeherrschung voraussetzen. Nur rigides, jahrelanges Training von frühester Jugend an macht dies möglich. Kathakali, wörtlich übersetzt: Geschichten-Tanz, ist Hochkunst, eher Pantomime als Tanz. Nur wenige verstehen die subtilen, komplizierten Details. Aber auch ohne Bildung und Wissen ist die Darbietung spektakulär und sehenswert. Für die Dorfbewohner ist es die Nacht, in der die Götter lebendig werden und ihnen Geschichten erzählen. Deswegen wird auch nicht applaudiert. Götter brauchen keinen Beifall. Die ersten beiden Darsteller schminken sich bereits wieder ab, und die nächsten stehen auf der Bühne. Die stundenlangen Vorbereitungen scheinen in keinem Verhältnis zur Dauer der einzelnen Auftritte zu stehen, aber das ist westliches Denken, erinnert uns Krishna mit einem nachsichtigen Lächeln.
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