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Der falsche Stil des Maurizio

Über die Schwierigkeit, Straftat und Bankkonto in Einklang zu bringen. Am Fall Gaudino verflüchtigt sich der Erklärungswert von Kriminalitätstheorien.  ■ Von Joachim Frisch

Im Dezember des letzten Jahres wurde der Fußball-Nationalspieler Maurizio Gaudino im Anschluß an eine Fernsehtalkshow verhaftet. Die Mannheimer Staatsanwaltschaft ließ verlauten, Gaudino werde des Versicherungsbetruges und der Hehlerei verdächtigt. Zudem soll er Mitglied einer Autoschieberbande gewesen sein.

Es war dies die Topmeldung des Tages. In allen Fernsehsendern gab es Filmberichte, die Boulevardpresse brachte fette Headlines. Ein deutscher Nationalspieler ein Verbrecher! Unweigerlich fragt sich der Fußballfreund: Hat ein Star der Bundesliga, einer der also mehrfacher Millionär sein muß, so etwas nötig? Was ist da passiert? Und wie ist es zu erklären?

Die für die Erklärung von Verbrechen zuständige Wissenschaft ist die Kriminologie. Nun gibt es in der Kriminologie, wie in jeder Sozialwissenschaft, zahlreiche konkurrierende Theorien. Wollen wir sehen, was diese im Fall Gaudino zu sagen haben. Angesichts der untypischen Umstände nicht viel, nehmen wir an. Ein erster Blick in die Lehrbücher der Kriminologen gibt uns recht. Kaum eine Kriminalitätstheorie hält der strengen Prüfung durch unseren Fall stand. Alle Ansätze, die Kriminalität als soziales Phänomen behandeln, scheiden als Erklärung aus: Daß ein Millionär aus sozialer Deprivation Autos verschiebt, das kann nun wirklich niemand annehmen.

Differenziertere Theorien helfen allerdings auch nicht viel weiter. Ein saturierter, stein- und erfolgreicher Mann schließt sich einer kriminellen Schieberbande an, um sein eh schon überfülltes Konto noch mehr zu mästen. Hier kann weder von Stigmatisierung noch von sozialem Protest oder gar von Rebellion die Rede sein.

Selbst klassische Subkulturtheorien und sozialökologische Milieukonzepte müssen passen. Zwar trägt das Milieu des Profifußballs durchaus subkulturelle Züge, man denke nur an die Ausbildung eines spezifischen Sprachcodes bei Fernsehinterviews („Ich sach' mal...“) oder lese Eckhard Henscheids „Standardsituationen“. Für eine kriminelle Subkultur aber fehlen die notwendigen Gegennormen, fehlt der Außenseiterstatus.

Die kriminologische Version der klassischen Anomietheorie Durkheims enttäuscht nicht weniger. Die geht davon aus, daß Kriminalität dann vermehrt auftritt, wenn die in einer Kultur etablierten materiellen Ziele mit den institutionalisierten Mitteln nicht zu erreichen sind. Im Falle Gaudino hieße dies, der arme Mauri habe sich den kulturell obligaten Ferrari nicht durch etablierte Mittel wie den Profifußball und Werbeverträge verdienen können, weshalb er notgedrungen einen illegalen Weg habe einschlagen müssen. Nicht nur Kenner der Szene wissen aber, daß Gaudino sich seinen Ferrari auch ohne kriminelle Geschäfte allemal leisten kann.

Bleibt der labeling approach, hierzulande Etikettierungsansatz genannt, die Gesinnungsgrundlage unserer Sozialarbeiter. Danach ist die Etikettierung eines Täters als kriminell, etwa durch eine Vorstrafe, der Startschuß zur kriminellen Karriere. Erst einmal als kriminell abgestempelt, gerät er in die Mühlen von Polizei und Justiz und wird die ihm aufgedrängte Rolle des Kriminellen schließlich selbst akzeptieren. So fördert der Staat durch seine Praxis des Strafens und der Kontrolle kriminelle Karrieren nach dem Muster der sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Zwar ist es möglich, daß Gaudino aufgrund seiner neapolitanischen Herkunft das Etikett des potentiellen Gauners trug. Doch zur Erklärung einer kriminellen Karriere im Sinne des Ansatzes fehlt die staatliche (sprich: polizeiliche) Komponente. Von einem einschlägigen Vorstrafenregister ist nichts bekannt.

Da unser Herz noch immer links schlägt, setzen wir unsere Hoffnungen auf die kritische Kriminologie. Sie will nicht die Ursachen kriminellen Verhaltens erklären, sondern sie untersucht, warum in bestimmten Gesellschaften bestimmte Handlungen als kriminell gelten und andere nicht, das heißt: auf welche Weise herrschende Definitionen von Kriminalität herrschenden Interessen dienen. Sie fragt danach, wem das Strafrecht nutzt, welche Zwecke es verfolgt und welche Klassen oder Gruppen mit seiner Hilfe benachteiligt werden. Das ist ehrenwert, aber in unserem Fall wenig hilfreich.

Ziehen wir ein erstes Fazit: Fortschrittliche und kritische Kriminalitätstheorien versagen. Oder sie haben nichts zu sagen. Der Fall Gaudino scheint eher Wasser auf die Mühlen wiederauferstandener konservativer und reaktionärer Verbrechenstheorien zu sein. Vielleicht gibt es ja doch den geborenen Verbrecher, die Verbrechernatur, wie Lombroso im letzten Jahrhundert lehrte und die Amerikaner Charles Murray und (der, falls es einen Lieben Gott und eine Gerechtigkeit gibt, jetzt in der Hölle schmorende) Richard Herrnstein neulich wieder „wissenschaftlich“ bestätigten. Ich sage nur: Neapel.

Vielleicht müssen wir zerknirscht den Jungkonservativen recht geben, die bis zum Überdruß den allgemeinen Verfall der Werte für die Verbrechen der heutigen Welt verantwortlich machen und für diesen Werteverfall natürlich niemand anderen als unsere guten alten 68er.

Doch diese skurrilen populistischen Modelle halten glücklicherweise einer ernsthaften Überprüfung nicht stand. Im Gegensatz zu dem in den Massenmedien erzeugten Eindruck hat hierzulande die Kriminalität in den letzten Jahren gar nicht zugenommen. Und der Fall Gaudino hat ja deshalb so viel Aufsehen erregt, weil er eine unrühmliche Ausnahme ist und nicht die Regel. Von diesem Einzelfall kann keineswegs auf einen allgemeinen Werteverfall geschlossen werden. Die Realität spricht für das Gegenteil: Auf einen Rechtsbrecher kommen unter den Profikickern zur Zeit mindestens zehn bekennende und bibeltreue Christen, eine veritable Übermacht des Guten, die wohl auch vor 1968 nie annähernd erreicht wurde. Gott sei Dank dürfen wir den ganzen reaktionären Unfug ad acta legen. Wie eh und je sagt er mehr über die Scheinheiligkeit seiner Urheber aus als über das, was er zu erklären vorgibt.

Ein letzter Versuch: Neuere Ansätze in der Kriminologie sehen die Kriminalität als ubiquitäres Phänomen. Sie gehen davon aus, daß Gesetzesübertretungen nicht die Sache einer Gruppe sozial deklassierter Delinquenten ist, sondern in allen Schichten gleichmäßig verbreitet. Nur die Gefahr, erwischt zu werden, sei in der Unterschicht größer, behaupten sie. Die Wahrscheinlichkeit, auch unter mehr als 300 gut bezahlten Bundesligaprofis ein paar schwarze Schafe zu finden, wäre dann durchaus nicht gering. Zwar ist nicht erklärt, warum ausgerechnet Gaudino, doch aufgrund des Wissens über die Ubiquität des Verbrechens dürfte uns nun nicht mehr wundern, daß ein erfolgreicher Profi straffällig wurde. Tut es aber doch, uns wundern; und verunsichern; und schockieren. Die recht vernünftige Erklärung beruhigt uns nicht. Wie ist das zu erklären? Und wie der Voyeurismus des Publikums, wo doch jeder weiß, daß in besseren Kreisen das Recht kaum ernster genommen wird als im niedrigen Volk?

Es ist die Art und Weise, in der ein vorbildlicher Profi kriminell wurde, die uns befremdet und fasziniert. Wenn schon in jeder sozialen Schicht Straftaten begangen werden, so doch nicht in jeder die gleichen. Jede Klasse hat ihren Stil. Die Unterschicht klaut, raubt, prügelt und verschiebt Autos, die Mittelschicht bescheißt Versicherungen und Krankenkassen, die Oberschicht das Finanzamt. So sind wir das gewohnt. Gaudino hat dem statistischen Gesetz der Wahrscheinlichkeit Genüge getan, denn es ist wahrscheinlich, daß unter mehreren hundert reichen Fußballprofis einige ab und zu die geschriebenen Strafgesetze übertreten. Was er jedoch nicht beachtet hat, ist das ungeschriebene Gesetz der sozialen Angemessenheit. Nicht seine Devianz an sich schockiert, sondern ihre falsche Form. Hätte er den Staat durch Steuerhinterziehung um das doppelte dessen geprellt, was er an Versicherungsbetrug und eventuell an Hehlerei und Verschieben von Autos verdient hat, wäre er kaum in die „Tagesthemen“ gekommen. Wen schockieren schon Nachrichten über Steuerhinterziehungen, selbst wenn diese von ehemaligen Wirtschaftsministern, Bundestrainern oder amtierenden Monarchen begangen wurden? Wer redet schon über die Kriminalität der Ärzte, die die Krankenkassen und damit letztlich ihre Patienten um Millionen prellen?

Der Skandal ist nicht die Straftat, sondern die falsche Straftat; nicht die Übertretung der Strafgesetze, sondern die Mißachtung der Klassenschranken; nicht die falsche Moral, sondern der falsche Stil. (Nebenbei bemerkt: Der Sensationswert der Meldung ist ein Indiz für unser aller Denken in Klassenkategorien und damit für die Existenz der Klassengesellschaft.)

Wie ist nun dieser Fauxpas soziologisch zu erklären? Ganz einfach: Gaudinos kulturelle Handlungskompetenz konnte mit dem rasanten ökonomischen Aufstieg nicht mithalten. Als kulturelle Handlungsmuster sind kriminelle Handlungsmuster Ergebnisse eines lebenslangen Sozialisationsprozesses und deshalb träge. Wie alte Gewohnheiten sind sie nur schwer zu ändern. Ungleich flexibler ist dagegen der soziale Status, denn zum Aufstieg in eine höhere Klasse gehört nichts weiter als das nötige Kleingeld, und das ist im Profifußball schnell verdient. Die Diskrepanz zwischen krimineller und sozialer Karriere wird so verständlich, eine Diskrepanz, die altgediente Fußballprofis oder Ärzte überwunden haben. Geben wir Herrn Gaudino also noch ein paar Jahre Zeit, um sich kulturell wie kriminell seinem sozialen Status anzupassen. Als gestandener Millionär wird er dann vielleicht, wie es sich in seiner Klasse gehört, vornehm Steuern hinterziehen und schwarze Schweizer Konten einrichten, statt vulgären kriminellen Bandenunfug zu treiben. Und hoffen wir, daß auch der Staatsanwalt und der Richter ein Einsehen haben und ihm diese Zeit geben, die er braucht, um sich ganz in seine neue Klasse einzufügen. Die Sozialprognose, Euer Ehren, ist durchaus günstig. Lassen Sie Gnade vor Recht ergehen.

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