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Radikalkur gegen die Tarifkrise

Hamburgs ÖTV-Chef Rolf Fritsch forderte gestern eine Kurswende in der Tarifpolitik / Die Krise der Tarifautonomie soll durch dezentrale Tarifverhandlungen bekämpft werden  ■ Aus Hamburg Florian Marten

„Ich bin wirklich total erschrocken.“ Hamburgs ÖTV-Chef Rolf Fritsch, einsamer Vor- und Querdenker in der grauen ÖTV-Landschaft, hat den Medienrummel noch immer nicht ganz verdaut, den er mit einer zarter Presseerklärung am 2. Januar losgetreten hatte: Ungewohntes Lob aus rechten Gewerkschaftskreisen, Schelte von links und sogar der Verdacht von CDU-Sozialausschüßler Walter Link, hier rühre ein Gewerkschaftsboß an den Grundfesten der Verfassung. So lautete das Echo auf Fritschs Idee, in zukünftigen Tarifverhandlungen für Gewerkschaftsmitglieder Extraleistungen herauszuholen. Fritsch und seine Fans gerieten in den Verdacht, hier träume ein verzweifelter Gewerkschaftsnostalgiker von der Einführung der Zwangsmitgliedschaft aller abhängig Beschäftigten durch die Hintertür.

Gestern holte Fritsch, unterstützt durch einen der renommiertesten deutschen Arbeitsrechtler, Professor Ulrich Zachert, zum Gegenschlag aus: „Die Tarifautonomie steckt in einer gefährlichen Krise. Während die Arbeitgeber völlig frei entscheiden, ob und wie sie Tarifverträge anwenden, veranstalten wir ritualisierte Tarifauseinandersetzungen um Bruchteile von Prozenten, bei denen am Schluß Verträge herauskommen, die kaum noch jemand ernst nimmt.“ Die Tarifpolitik, so mahnte Fritsch, müsse grundlegend reformiert werden.

Fritsch will die Tarifverhandlungen regionalisieren – bis hinunter auf die Betriebsebene. Eine Überlegung, die sich durchaus mit dem Wortlaut von DGB- und ÖTV-Beschlüssen deckt, die seit kurzem immer deutlicher von „Dezentralisierung“ und größerer Tarifverantwortung vor Ort sprechen. Die nationalen Tarifverhandlungen sollen laut Fritsch lediglich zu Rahmenbedingungen führen, zum Beispiel zu einer Lohn- und Gehaltstabelle, die dann vor Ort durch Entscheidungen über Eingruppierung, Lohnnebenleistungen und Arbeitszeit mit Leben gefüllt werden könne. Nur um hier die Verhandlungsfähigkeit der Gewerkschaften zu stärken, brachte Fritsch die Idee mit den Extras für Gewerkschaftsmitglieder ins Spiel.

Diese Idee ist längst heimlich geübte Praxis: Frank Teichmüller, Chef des IG-Metall-Bezirks Küste und seit kurzem wortstarker Fritsch-Kritiker, handelte jüngst mit der Teldec in Schleswig-Holstein einen Haustarifvertrag aus, nachdem die Teldec die Zahlung der Gewerkschaftsbeträge übernimmt, die freilich, so der besondere Charme des Vertrages, bei Gewerkschaftsaustritt vom Arbeitnehmer an die Teldec zurückbezahlt werden müssen. Fritsch hat andere Vorstellungen: Er denkt an Investivlohn und Jobticket.

Die rechtlichen Grundlagen für solche Versuche sind nach Aufassung von Ulrich Zachert längst gegeben. In einem Gutachten für die Hamburger ÖTV zeigt Zachert, daß nach deutschem Recht Tarifverträge, anders als in Spanien, nur für die Tarifvertragsparteien bindend sind. Die Praxis der Arbeitgeber, Tariflöhne im Huckepackverfahren auch Nichtorganisierten zu bezahlen, ist also nicht gesetzlich vorgeschrieben, sondern unternehmerisches Kalkül. Fraglich ist nur, ob die Gewerkschaften die Unternehmen per Tarifvertrag zwingen können, diese Huckepackpraxis zu unterlassen. Ein nach Zachert überholtes Urteil des Bundesarbeitsgerichts von 1967 legt dies nahe. Zachert sieht die Rechtsprechung inzwischen aber auf einer anderen Schiene und empfiehlt eine „Feststellungsklage“, damit das Bundesarbeitsgericht eine Chance bekommt, diesen Kurswechsel auch höchstrichterlich zu dokumentieren. Fritsch will derweil „ganz unaufgeregt“ in seinen regionalen Tarifverhandlungen in Hamburg ausloten, was schon heute machbar ist.

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