piwik no script img

Die Kantine als Kellerloch

Frank Castorf oder Lernen, mit der Bombe zu leben. Zum einmal mehr erhobenen Ton der Apokalypse  ■ Von Jörg Lau

Nicht ganz einfach zu rekonstruieren, wie dieser Schwelbrand in den deutschen Feuilletons zustande kam, der jetzt schon zwei Wochen lang vor sich hin kokelt und schlechte Luft verbreitet.

Frank Castorf, Intendant der Berliner „Volksbühne“, gibt der linken Zeitung Junge Welt (30.12.) anläßlich der Premiere von Johann Kresniks Tanz-Stück „Ernst Jünger“ ein Interview, in dem von der Notwendigkeit „faschistoider, vitaler Gedankengänge“ die Rede ist. Eine Woche lang hat die Angelegenheit keine Folgen, nur ein paar mokante Sätze „Unterm Strich“ in der taz (2.1.). Dann wirft sich Jens Jessen in der FAZ (7.1.) in den Ring und zeigt sich enttäuscht über die Unaufgeregtheit der taz; das Monstrum der „politischen Korrektheit“, gegen das die FAZ immer wieder mutig die Axt erhebt, sollte es sich am Fall Castorf als Chimäre erweisen? Das denn doch nicht: Es reckt nur an anderer Stelle sein Haupt, in der Frankfurter Rundschau (10.1.), wo Castorf von Peter Iden kurzerhand als „Irrer“ abgetan wird. Iden möchte Castorf nicht nur den Kortner-Preis der Zeitschrift Theater heute aberkennen, er findet, Castorf sei schon „als Intendant der Skandal“. Endlich schafft Die Zeit (13.1.) Klarheit, der es gelingt, Castorf vors Mikro zu bekommen. „Ich kann das Interview in der Jungen Welt nicht legitimieren. Die meisten Fragen sind erst nachträglich in den Text eingebaut worden. Die meisten Nachsätze sind gekappt. Dies ist nicht das Gespräch, das wir geführt haben.“

DDR-Vegetation?

Es war also alles ein großes Mißverständnis, verursacht durch Vernachlässigung der journalistischen Sorgfaltspflicht durch die Junge Welt? Die ganze Angelegenheit ein Hoax, Castorfs angebliche „Lust am Atomgewitter“ (FAZ) ein aufgelegter Schwindel, der Intendant der Volksbühne das Opfer einer noch nie dagewesenen Großen Koalition der deutschen Presse? Daran mußte jeder zweifeln, der die restlichen wenigen Zeilen las, die Castorf der Zeit im Interview gewährte. Diese Zeilen, diesmal „legitimiert“, versteht sich, bestätigen ganz gegen Castorfs Absicht die Tendenz des nicht abgesegneten Interviews in der Jungen Welt: „Denkt ihr im Westen nicht mehr daran, wie wir vor Jahren in der DDR vegetiert haben? Ich durfte nicht arbeiten. Meine Inszenierungen wurden verboten. Auch ein Erfolg! Aber um welchen Preis. Heiner Müller, dem es ähnlich ging, ich und andere Künstler haben Gegen-Energie entwickelt. Wir haben provoziert, um überhaupt gehört zu werden. Um die DDR-Oberen zu schockieren, gab es nur eins: faschistoide Gedankengänge. Oft hat es auch funktioniert. Und heute oft sogar im Westen. Frage: Aber was wollen Sie mit ,faschistoiden Gedankengängen‘ erreichen? Da saß ich, arbeitsloser Theatermensch, vor der ,Wende‘ in der Kantine des Theaters von Karl- Marx-Stadt [...] und litt unter der DDR, diesem Koloß der Nichtbewegung. Unter dem Druck dieser proletarischen Dekadenz: Können Sie nicht verstehen die Sehnsucht nach Veränderung, nach Revolution, um es für die DDR schwerzumachen: nach einem ,Stahlgewitter‘?“

Die Junge Welt dokumentierte am Freitag letzter Woche zentrale Passagen des Interviews nach der Tonbandabschrift. Im Vergleich mit dem Text, der zum Streitfall wurde, zeigt sich, daß die Redaktion zwar hie und da gekürzt und zugespitzt, die Tendenz aber keineswegs verfälscht hat. Völlig zu Recht stellt daher die Junge Welt fest: „Tatsächlich ist auch die vollständige Fassung des Gesprächs keineswegs geeignet, Castorfs Plädoyer für die Apokalypse plausibler erscheinen zu lassen.“

Aber halten wir uns ruhig an die gegenüber der Zeit gemachten Aussagen: Castorf möchte die Sache mit den „faschistoiden Gedanken“ jetzt offenbar gerne auf die Zustände unter dem Ancien régime schieben. Was hat man nicht alles auf sich genommen, um „die Oberen“ zu schocken! Sogar „faschistoid“ ist man geworden – aus Liebe zur Kunst. Es ging einfach nicht anders.

Jugendirre Urszene

Diese Rechtfertigungsstrategie ist bekannt. Schon jenen geistig beweglichen Skinheads, die ihren Sozialarbeitern nachplappern, daß sie „faschistoide Gedanken“ äußern mußten, „um überhaupt gehört zu werden“, haben wir sie nicht abgenommen. Sollte es jetzt genügen, wenn sich der Intendant einer der interessantesten Bühnen des Landes auf die gleiche Weise aus der Affäre zu ziehen versucht? Was dem Kahlkopf sein Jugendheim, wäre dann also Frank Castorf die Volksbühne – ein Raum zum folgenlosen Ausleben des Jugendirreseins?

So könnte man es sehen, aber das Genrebild des Künstlers als Rechtsradikaler aus verweigerter Anerkennung verdient genauere Aufmerksamkeit. Das literarische Urbild der Szene in der Kantine sind die „Aufzeichnungen aus dem Kellerloch“ von Dostojewski – das Buch, in dem der Zusammenhang von Ressentiment und Revolte in der modernen Seele zuerst gezeichnet wurde. Wie der Petersburger Kellerlochmensch „vegetiert“ Castorf in Karl-Marx-Stadt und pflegt seinen Haß auf „die Oberen“ (bei Dostojewski heißen sie „Herrschaften“) und die „proletarische Dekadenz“ zugleich. Wie der Kellerlochmensch zappelt auch der Kantinenmensch zwischen Lebensekel, dem Wunsch nach totaler Revolution und der Fixierung auf Autoritäten.

Der Infantilismus, die Fixierung auf Autoritäten („die Oberen“), namenlose Schuldgefühle und Phantasien kollektiver Bestrafung („Stahlgewitter“) gehören dabei zusammen. Die Strafphantasie kann vielerlei Gestalt annehmen, wie jenes Interview in der Jungen Welt gezeigt hat. Eine „totale Revolution“ taugt da ebenso gut wie eine Überschwemmung, ein Barbareneinfall oder die Bombe. Nach seinem Begriff des „Volkes“ befragt, antwortet Castorf der JW: „Ich wünschte mir allerdings, daß es wirklich die Initiative ergreift, nicht nur geschoben wird, wie bei der Possenrevolution in Leipzig; daß das Volk, wie [Heiner] Müller sagt, Völker wird; daß eine Apokalypse bei uns hereinbricht, die Hunnen kommen oder der Amazonas uns überschwemmt.“ Frank Castorf bezeichnet sich im Gespräch mit der Jungen Welt als „mystischer Antikapitalist“ und spricht mit bemühtem Sarkasmus von der kommenden „sozialistischen Gesellschaft“. Man darf ihn da beim Wort nehmen: Die apokalyptische Mentalität hat immer schon Visionen eines neuen, unschuldigen Lebens mit blutigen Phantasien von Rache und Zerstörung vereint: „Dann sah ich einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde sind vergangen, auch das Meer ist nicht mehr. Ich sah die Heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabkommen, sie war bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat. [...] Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. [...] Aber die Feiglinge und Treulosen, die Befleckten, die Mörder und Unzüchtigen, die Zauberer, die Götzendiener und alle Lügner – ihr Los wird der See von brennendem Schwefel sein.“ (Offb. 21, 1-8).

Neuer Männergesang

„Die Hunnen“, „der Amazonas“ – Castorfs zaghafte Ironiesignale in dem skandalösen Interview sind von denjenigen, die ihn jetzt angreifen, in ihren Kommentaren geflissentlich unterschlagen worden. Dabei wäre über die neueren Schübe apokalyptischer Rede, die nicht mehr von seiten einer politischen Bewegung, wie zu Zeiten der Friedensbewegung, sondern von den großen Bühnen und aus den Büchern unserer prominentesten Autoren auf uns ergehen, einmal ernsthaft zu debattieren. Frank Castorf ist ja nicht der einzige, der heute seine Männerphantasien veröffentlicht. (Die Apokalypse ist ein Genre, das bevorzugt Männer anzieht. Auch darüber wäre zu reden.) Botho Strauß – sein Kellerloch darf man sich als die Berliner Paris Bar vorstellen – malte sich in seinem „Bocksgesang“ mit Genuß aus, wie „in unsere abstrakte Welt Bromios, der laute Schrecken, einschlägt und das angeblich so wirklichkeitsbezwingende Gefüge von Simulacren und Simulatoren von einem Tag zum anderen ins Wanken gerät. (Die Wirklichkeit blutet wirklich jetzt.)“ Und Peter Handke – sein Kellerloch ist eine Villa vor den Toren von Paris – hat in seinem neuen Roman die Phantasie eines reinigenden Bürgerkriegs ausgesponnen, der den Deutschen die Dinge und den Nebenmenschen erst wieder recht nahe bringt.

Es mag interessant sein, die literarischen Tagträume der Künstler- Propheten unseres Fin de siècle auf einer links-rechts-Skala einzutragen. Es bleibt dann die Frage, woher diese Welle des Prophetentums ihren Schub, woher unsere prominenten Künstler heute ihren Abscheu, ihren Lebensekel beziehen. Damit dies aber geschehen könnte, müßte anerkannt werden, daß unter dem Kunstwollen und dem Moralismus, dem Castorf, Strauß und Handke sich auf ihre je eigene Art verschrieben haben, der Kellerlochmensch lauert. Oder – um es mit den Worten eines Philosophen zu sagen, der mindestens von den ersten beiden Künstlern verehrt wird – ein „Ressentiment, das schöpferisch wurde“ (Friedrich Nietzsche). Es spricht der Kellerlochmensch, wenn Castorf sagt: „Was mich an den Stücken [Jüngers und Bronnens, d. Red.] interessiert, ist die Sehnsucht nach Schmerz, nach Biographien von Menschen, die tatsächlich etwas für ihre Haltung riskiert haben, deren Leben ein Alptraum war, die sich nirgends zu Hause fühlten und deswegen den Schützengraben heiligsprachen. Heute leben wir in einer Welt der Spalt-Schmerzstilltabletten, wichtig ist, die Rentenversicherung mit 18 abzuschließen.“ Nur leidet der rebellische Zauber solcher Statements sehr daran, daß nicht ein abgerissenes, verworfenes Subjekt vom freiwillig aufgesuchten Rande der Gesellschaft spricht, sondern ein wohlgenährter Intendant mit Spitzengage und Pensionsberechtigung.

Frank Castorf sollte Dostojewskis Erzählung lesen, die eine subtile Psychologie des Ressentiments entfaltet. Der Held spricht am Ende im imaginären Gespräch mit den „Herrschaften“ die Wahrheit über seine Revolte aus. Es könnte sein, daß sie auch die Wahrheit über das Ressentiment ist, das unsere prominentesten Künstler umtreibt – eine Disposition zum Autoritären, wie wir sie lange nicht für möglich hielten: „Und warum zappeln wir uns zuweilen ab, warum gebärden wir uns wie toll, worum betteln wir? Das wissen wir selbst nicht. Es würde uns zu unserem eigenen Schaden gereichen, wenn unsere Grillen in Erfüllung gingen. Nun, probieren Sie es, geben Sie uns, meinetwegen, größere Selbständigkeit, Ellenbogenfreiheit, erweitern Sie das Tätigkeitsfeld, lockern Sie die Bevormundung, und wir ... Aber ich versichere Ihnen: wir werden sofort wieder nach Bevormundung betteln.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen