: „Weniger denn je ein Grund zum Feiern“
■ Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel erschien nicht bei den Auschwitz-Feierlichkeiten in Krakau, sondern fuhr nach Birkenau / Rundfunkansprache von Bischof Lehmann
Berlin (AFP/dpa/Reuter) – In der südpolnischen Stadt Krakau begannen gestern, mit einer Feierstunde in der Jagiellonen-Universität, die offiziellen Gedenkfeierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz. Gekommen waren neben dem polnischen Staatspräsidenten Lech Walesa, Vertreter von 30 ausländischen Regierungen und Repräsentanten jüdischer Organisationen, auch einige ehemalige Häftlinge von Auschwitz. Überschattet sind die Feierlichkeiten von den Auseinandersetzungen über das offizielle Programm. Während für Polen Auschwitz ein Symbol für die Unterdrückung ihres Landes durch die Deutschen ist und sie deshalb diesen Aspekt in den Vordergrund stellen, ist Auschwitz für die jüdische Seite das Symbol für den Holocaust. Jüdische Organisationen kritisierten im Vorfeld der Veranstaltungen heftig, daß die polnische Seite die Verbrechen an den Juden nicht ausreichend berücksichtige. Von den in Auschwitz ermordeten etwa 1,5 Millionen Menschen, waren 90 Prozent Juden. Um für sie das Totengebet sprechen zu können, luden deshalb jüdische Organisationen zu einer eigenen religösen Veranstaltung in Birkenau ein (siehe Reportage oben). An dieser – und nicht an der Krakauer Feier – nahm Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel teil.
Bekräftigt wurde der Vorwurf der Polonisierung des Holocaust von dem Frankfurter Publizisten Arno Lustiger, der Auschwitz überlebt hat. In der Allgemeinen Jüdischen Wochenzeitung schrieb er, daß nach 1945 alle polnischen Regierungen die Toten von Auschwitz „für ihre jeweiligen politischen Zwecke mißbraucht haben“. Die jüdische Identität der Ermordeten sei „planmäßig geleugnet worden“. Im gleichen Geist seien die Gedenkfeiern am 26. und 27. April organisiert worden. An den Feierlichkeiten nahm er nicht teil: „Auschwitz überlebt zu haben, ist heute weniger denn je ein Grund zum Feiern.“ Weiter schrieb er, daß „unser kollektives Gedächtnis nicht von den Launen und der Profilierungssucht einzelner Menschen oder Institutionen abhängig gemacht werden darf. Wir sollten unserer Toten ohne öffentliches Gepränge, sondern in unseren Herzen gedenken.“
In seiner Eröffnungsrede im Senatssaal der Universität ging Präsident Walesa nicht auf diese Vorwürfe ein, sondern mahnte die Wahrung von Menschenrechten, Demokratie, Frieden und Toleranz an. Dies sei „die wichtigste Verpflichtung der Politiker von heute“. In seiner Rede erinnerte er auch an das polnische Leid der deutschen Besetzung und an das Schicksal von 183 Krakauer Professoren, die in deutsche Lager verschleppt worden waren. Am Nachmittag trafen sich die Friedensnobelpreisträger, um einen „Appell an die Völker“ vorzubereiten. Er soll heute bei den Feiern in Auschwitz vorgetragen werden.
Gestern gedachten auch zahlreiche deutsche Politiker und Kirchenvertreter des Jahrestages. Nach der Erklärung der katholischen deutschen Bischofskonferenz, die sich zur Mitschuld der katholischen Christen in Deutschland am Antisemitismus bekannte, wandte sich der Vorsitzende der Konferenz, Bischof Lehmann, im Warschauer Rundfunk an die Polen: „Wir bitten das polnische Volk um Vergebung für die vielen Opfer aus den eigenen Reihen und für die Schmach, die manche Schatten auch auf das Land geworfen hat, in dem diese Verbrechen geschahen“. In einer ersten Reaktion auf Lehmanns Interview sprach der Generalsekretär der polnischen Bischofskonferenz, Pieronek, von seiner Freude, daß sich die deutschen Bischöfe „von der zutiefst ungerechten These distanzieren, nach der im Lager Auschwitz keine Polen umgekommen sind. Dort starb die ganze Welt“.
Auch der Vorsitzende des Rats der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischof Klaus Engelhardt, hat sich zur Mitverantwortung des christlichen Antijudaismus für den Holocaust bekannt. Christliche Theologie und Kirche seien an der langen Geschichte der Entfremdung und Feindschaft gegenüber den Juden beteiligt gewesen. Auch wenn einzelne Beteiligte für ihre Taten gebüßt hätten, „hafteten alle Deutschen für die Folgen der schuldhaften Vergangenheit.“
Die Abgeordneten des deutschen Bundestages gedachten stehend der Opfer von Auschwitz- Birkenau. Rita Süssmuth sagte: „Heute mitzuarbeiten, daß Auschwitz nie wieder möglich wird, bleibt immerwährender Auftrag an uns alle, auch an die kommenden Generationen.“ Nach 1945 „ist ein Brückenschlag zwischen Juden und Deutschen nur wieder möglich geworden, weil Juden, die unvorstellbares Leid erfahren haben, die ungeheure menschliche Leistung vollbrachten, uns die Hand zu reichen“.
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