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Nur zögerlich wird Demokratie gewagt

■ SPD-Basis bestimmt zum ersten Mal die Bürgermeister-Kandidaten: Im Westteil ist die Wahl faktisch gelaufen / Spannend wird es noch in zwei Ostbezirken werden

Die 24.500 SPD-Mitglieder sollen am Sonntag nicht nur Walter Momper oder Ingrid Stahmer zu ihren Spitzenkandidaten küren. Sie stimmen per Urwahl auch über die Kandidaten für die Bürgermeister-Ämter ab – im Oktober wird nicht nur das Abgeordnetenhaus, sondern werden auch die Bezirksparlamente und erstmals die 23 Bürgermeister gewählt. Doch die angebliche Urwahl der Bürgermeisterkandidaten entpuppt sich beim näheren Hinsehen als Augenwischerei. Zwar stellen sich insgesamt 33 Männer und mit Monika Wissel (Charlottenburg) und Silvia Freimuth (Zehlendorf) zwei Frauen zur Wahl, doch bei der Mehrheit der 23 Bezirke steht das Ergebnis bereits fest: In aussichtsreichen Bezirken ist, von Ausnahmen abgesehen, jeweils nur ein Kandidat aufgestellt worden.

Ganz bitter geschlagen sind die Westberliner Genossen: Für sie wird praktisch keine Demokratie gewagt. In sieben der zwölf West- Bezirke, in denen Sozialdemokraten das Polster des Bürgermeister- Sessels warmhalten, gibt es nur einen Kandidaten und damit keine Auswahl. Weil diese nur im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit, im zweiten Wahlgang am 5. März aber nur noch eine einfache Mehrheit brauchen, sind sie faktisch – unabhängig vom parteiinternen Wählerwillen – als Kandidaten aufgestellt. Immerhin kommt es in Tiergarten zu einer Änderung. Der amtsmüde Wolfgang Naujokat räumt seinen Stuhl, den der jetzige Baustadtrat Horst Porath einnehmen möchte. Mit Steglitz, Tempelhof und Zehlendorf gibt es zwar in drei Westbezirken jeweils zwei Kandidaten, aber hier werden die Bezirke aller Voraussicht nach sowieso in CDU-Hand bleiben.

Zu einem Wahlkampf im Wortsinn kommt es also nur im Ostteil. In neun von elf Bezirken stellt die SPD den Bürgermeister, die alle wieder kandidieren. In sieben Bezirken gibt es keinen Gegenkandidaten, dafür wird es wenigstens in Pankow und Marzahn spannend. Den Pankower Bürgermeister Jörg Richter wollen die beiden ehemaligen Bezirksverordneten Eckhard Ewert und Reinhard Jungmann vom Hocker hauen. In Hellersdorf und Lichtenberg, zur Zeit geführt von Monika Dathe und Gottfried Mucha (beide Bündnis 90/Die Grünen), stehen zwei beziehungsweise vier SPD- Kandidaten der Parteibasis zur Auswahl.

Daß die Urwahl mit Momper und Stahmer auf der landespolitischen Ebene funktioniert, in der Kommunalpolitik dagegen nicht, ist den Genossen eher unangenehm. Landesgeschäftsführer Rudolf Hartung verspricht fast entschuldigend, daß aber beim nächsten Mal – im Jahr 1999 – mehr Kandidaten zur Auswahl stehen werden. Denn die vergangenen drei Monate hätten gezeigt, daß die Chancen von Gegenkandidaten durch die mit der Urwahl in Gang gekommene parteiinterne Diskussion und durch die Berichterstattung der Medien stark gewachsen seien – ein Ansporn, gegen Bürgermeister der eigenen Partei anzutreten. Der Marzahner Kreisvorsitzende Clemens Thurmann macht für das Demokratie- Defizit aber auch die verkrusteten Strukturen bei den Westgenossen verantwortlich: „Gerade bei den Westverbänden wird die Entscheidung, wer kandidiert, in kleinen Zirkeln vorentschieden.“ Angesichts der Kandidatenlage bezweifelt Thurmann in vielen Bezirken den Sinn der Urwahl, die er grundsätzlich aber nicht in Frage stellen will. Die Marzahner Mitgliederzahl sei von 200 auf 230 gewachsen. Der Landesverband soll mit 300 Neumitgliedern auf knapp 25.000 Genossen gewachsen sein.

Um den Trend auszunutzen, nehmen manche Kreisverbände sogar am Urwahl-Sonntag neue Mitglieder auf, die im Kampf um Spitzen- und Bürgermeister-Kandidaten mitstimmen dürfen. Die Wahlfete findet Sonntag, 17 Uhr in der Urania statt. Erste Ergebnisse werden um 17.30 Uhr erwartet, das amtliche Endergebnis wird Dienstag bekanntgegeben. Dirk Wildt

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