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„Ein Wunder, daß wir lieben können“

Sie war Perlendreherin, er Messerschleifer: Die Deutsche Edith Gutzeit und der Russe Nikolai Markina arbeiteten ihr Leben lang in der Palmnicker Bernsteinfabrik – erst als Zwangsarbeiter, dann für Lohn.  ■ Von Anita Kugler

Edith Gutzeit ist 15 Jahre alt, als die 3. Belorussische Front der Roten Armee die ostpreußische Kleinstadt Tapiau erobert. Das war am 27. Januar 1945. Die Großmutter von Edith wird auf einen Leiterwagen gepackt, verzweifelt versucht die Familie sich aus der Stadt hinaus nach Königsberg, dann nach Pillau zu schlagen. Von dort sollen noch Evakuierungsschiffe nach Deutschland abgehen. Aber die Flucht mißlingt, überall geraten sie zwischen die Frontlinien. Der Treck, dem sich die Familie angeschlossen hat, bleibt liegen, der Großvater wird von einem jungen Rotarmisten erschossen, die Mutter schwer verwundet. Ein ganzes Jahr lang, bis 1946, zieht Edith den Leiterwagen mit Oma und Mutter durchs Land, irgendwann hörte sie auf, die Vergewaltigungen zu zählen. „Ich habe gedacht, ich werde nie mehr in meinem Leben lachen.“

Zurück in Tapiau, umbenannt in Gwardejsk, die Stadt der Garde, arbeitet Edith bei der Kommandantur, zusammen mit sechs anderen Mädchen. Beim Wäschewaschen singen sie ein Lied, es handelt von Hunger und Sterben, ein Soldatenlied. Die Mädchen werden verhaftet, Hochverrat lautet die Anklage, ein politischer Prozeß findet im Oktober 1947 in Königsberg statt. Fünf Jahre Arbeitslager lautet das Urteil.

Edith hat Glück. Sie wird nicht nach Sibirien deportiert, sondern in die Bernsteinmine nach Palmnicken, die einzige Bernsteinmine der Welt. Sie ist knapp 17 Jahre alt. Während der Nazizeit arbeiteten dort französische Kriegsgefangene, während der Stalinzeit Zwangsarbeiter aus allen Ländern des Ostens. Edith lernt Bäume fällen, Straßen bauen, Rohre verlegen. Dann wird sie angelernt als Bernsteinperlendreherin, ein qualifizierter Beruf, der viel Augenmaß erfordert.

Der Mann, der die Messer schleift und die Transmissionsriemen richtet, ist ein Russe aus Gorki, heute wieder Nishni Nowgorod. Auch er ist Zwangsarbeiter. Nikolai Markina heißt er und ist 22 Jahre alt. Anderthalb Jahre lang war er auf der Krim in deutscher Kriegsgefangenschaft, dann gelang ihm die Flucht zu den Partisanen, die ihn nicht aufnehmen wollten. Bis 1945 irrte auch er durchs Land, immer in Gefahr als deutscher Kollaborateur verhaftet zu werden. Deutsche Kriegsgefangene waren Vogelfreie. Zurück in seiner Heimatstadt stiehlt er Brot, wird erwischt, sechs Jahre Arbeitslager heißt das Urteil, abzubüßen in der Bernsteinmine von Jantamyj, früher Nordostpreußen. Edith, die deutsche Zwangsarbeiterin, und Nikolai, der russische Zwangsarbeiter verlieben sich ineinanander. „Daß ich das noch konnte, ein Wunder.“ Sie lieben sich noch heute und sind ihrem Gott dafür dankbar.

1952 wird Edith entlassen. Ihre Mutter, erfährt sie über das Rote Kreuz in Kaliningrad – so heißt Königsberg seit ein paar Jahren –, ist nach Ediths Verhaftung wahnsinnig geworden und 1948 gestorben. Der Vater 1945 gefallen. Die Deutschen sind geflüchtet, vertrieben. Zurückgeblieben sind in der Stadt nur die aus den Gefängnissen, Arbeitslagern und einige aus dem Gulag Zurückgekommene, vielleicht hundert Deutsche im ganzen Gebiet. Alle arbeiten sie auf dem Bau, das alte Königsberg wird gesprengt, abgeräumt, die Backsteine werden gebraucht, um das zerstörte Leningrad wieder zu errichten. „Die Arbeit hat mich fast umgebracht, so schwer war sie.“

An dem Tag, an dem Nikolai aus der Zwangsarbeit entlassen wird, steht sie am Fabriktor. Sie heiraten sofort, und beiden gelingt es, Arbeit zu finden. Wieder in der Bernsteinfabrik. Sie als Perlendreherin, er als Messerschleifer. Zwangsarbeiter gibt es nur noch wenige in der Mine.

Sie bleiben zusammen und stehen die Drangsalierungen wegen ihrer deutsch-russischen Ehe durch. Erst 1983 erhalten sie vom Bernsteinkombinat eine eigene kleine Wohung, drei Zimmer, Küche, Bad. Da waren die beiden Söhne Victor und Igor schon erwachsen und arbeiteten ebenfalls in der Bernsteinmine. So wie alle in Palmnicken, etwa 3.000 Menschen. 90 Prozent des Weltvorkommens kommt von dort. Er wird im Tagebau gewonnen und die Abräummassen nach dem Sieben wieder ins Meer geschüttet. Die Kleinstadt an der „Blauen Erde“ ist, um den Schmuggel zu verhindern, Sperrbezirk im militärischen Hoheitsgebiet, nie durften sie die innere Grenze übertreten. Jahrzehntelang spricht Edith nicht ein einziges Wort in ihrer Muttersprache. Im Ort gibt es Esten, Letten, Ukrainer, Weißrussen, aber Deutsche nicht mehr.

1985 wird Edith pensioniert, die Arbeit hat sie fast blind gemacht. Zwei Jahre später geht auch Nikolai in Rente, und dann Anfang 1991 geschieht das Unvorstellbare. Die Grenzen des inneren und äußeren Sperrbezirks öffnen sich. Das Gebiet Kaliningrad, Jahrzehnte für Ausländer streng verboten, wird zum offenen Land, nach der Unabhängigkeit Litauens ist es eine russische Exklave geworden. Die ersten Heimwehtouristen kommen nach Palmnicken, und Edith erfährt, daß sie nach Deutschland ausreisen könnte und, wegen der Familienzusammenführung, auch ihr russischer Mann. In Essen lebt noch eines der Mädchen, mit der sie vor einem halben Leben das Lied vom Hunger und vom Sterben gesungen hat, ein anderes in Lüneburg.

Aber im Herbst 1991 geschieht das große Unglück. Ihr „Glückskind“, der am Heiligabend geborene Sohn Igor, stirbt bei einem Verkehrsunfall und hinterläßt zwei kleine Kinder. Die Schwiegertochter „macht sich ein leichtes Leben“, treibt sich mit „Bizzinessmen“ herum. Edith und Nikolai nehmen die „Engelchen“ zu sich, erst vor kurzem wurden sie eingeschult. Die besondere Geschichte von „Mamotschka“ und „Papotschka“ werden sie vielleicht nie begreifen lernen. Die wieder zu Eltern gewordenen Großeltern entschieden sich, in Palmnicken zu bleiben, obwohl die Rentenzahlungen des Bernsteinkombinats seit ein paar Monaten ausgeblieben sind. Zusammen 220.000 Rubel steht ihnen zu, etwa 90 Mark. Die Mine arbeitet nicht mehr, seitdem der Direktor – ein Verwandter des Gebietsadministrators Juri Matotschkin – sich über alle Berge davongemacht hat. Er hatte den Bernstein illegal und auf eigene Kasse ins Ausland verschoben und die Mitarbeiteranteile der neugegründeten Aktiengesellschaft an eine Investmentbank übertragen. Die Bank ist jetzt bankrott. Ab und zu kommen jetzt ausländische Interessenten, und es kursiert das Gerücht, daß der Tagebau von der Fabrik getrennt verkauft werden soll. Doch die Technologie ist uralt.

Wie sie sich die Zukunft der Exklave Kaliningrad vorstellen? „Für Politik habe ich fünf Jahre bekommen“, sagt Edith. „Die Politik hat mir die Jugend gestohlen“, meint Nikolai. Ihre Hoffnung für die Zukunft ist bescheiden. „Wir wollen nur leben, ein bißchen Brot und was zum Anziehen.“ Die Kartoffeln ziehen sie in ihrem Gärtchen einige Kilometer außerhalb des Neubaugebiets. An den Wänden ihrer kleinen Wohnung hängen nach russischer Art die bunten Teppiche, und im Schlafzimmer stehen nach deutscher Art die weißgehäckelten Paradekissen. Zwischen den kolorierten Fotografien ihrer Kinder hängt ein Schmuckteller mit der Aufschrift „Der Kluge lebt von den Dämlichen und der Dämliche von der Arbeit.“ Den Teller haben sie vor vielen, vielen Jahren zwischen den Resten eines alten deutschen Hauses gefunden. Weihnachten feiern sie zweimal. Evangelisch am Heiligabend und russisch-orthodox am 7. Januar.

Deutsche Bücher würde Edith gerne wieder lesen. Sie hat kein einziges Wort vergessen und Nikolai viele Vokabeln beigebracht. Und jeden Sonntag gehen Edith und Nikolai zu dem nahen Hügel, unter dem der Igor begraben liegt, halten sich fest aneinander und weinen. „Wir können ihn doch nicht allein lassen."

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