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Atemberaubender Eurozentrismus

■ Wolf Lepenies, Rektor des Wissenschaftskollegs, über die Wissenschaftskulturen.

taz: Das Wissenschaftskolleg zu Berlin ist nicht nur Ort des internationalen Wissenschaftleraustauschs, sondern auch Mitgestalter verschiedener internationaler Wissenschaftsprojekte. Welche wissenschaftspolitischen Ziele stehen bei diesen Aktivitäten im Vordergrund?

Lepenies: Meine Erfahrung der letzten Jahre ist, daß eine Institution wie das Wissenschaftskolleg durchaus politisch und praktisch wirken kann. So haben wir uns frühzeitig dazu entschlossen, etwas gegen den brain drain zu tun, gegen das intellektuelle, das geistige Ausdünnen von großen Metropolen wie Warschau, Budapest oder Bukarest – in meinen Augen eine der schlimmsten Entwicklungen in Europa nach dem Zerfall des Ostblocks. Wir alle wissen, daß die Besten, natürlich aus nachvollziehbaren Gründen, an die großen Institutionen im Westen gehen. Wir haben, durchaus erfolgreich, versucht, etwas dagegen zu tun, indem wir uns bemühen, lokale Wissenskulturen in Mittel- und Osteuropa zu stärken.

Vor drei Jahren haben wir in einer Kooperation von sechs europäischen Ländern und gemeinsam mit bedeutenden privaten und öffentlichen Förderinstitutionen das „Collegium Budapest“ eingerichtet, das erste „Institute for Advanced Study“ in Osteuropa. Zweitens haben wir in Rumänien unter der Leitung von Andrei Plesu, dem bedeutenden rumänischen Philosophen und Kunsthistoriker, der für mich zu den wichtigsten europäischen Intellektuellen der Gegenwart zählt, das „New Europe College“ einrichten können. Dies ist eine eher lokale Institution, in der junge rumänische Wissenschaftler eine Chance erhalten, unter Bedingungen zu forschen, die denen „im Westen“ vergleichbar sind, und Kontakt auch mit Kollegen und mit Institutionen im Westen aufzunehmen.

Drittens bemühen wir uns wiederum – in einem internationalen Verbund, mit Frankreich vor allem –, die „Graduate School for Social Research“ an der Akademie der Wissenschaften in Warschau zu fördern. Letztlich geht es um eine Europäisierung dieser Institution. Die Graduate School soll schließlich attraktiv werden auch für Studenten aus westlichen Ländern.

Spüren Sie eine Ausstrahlung der Aktivitäten im Wissenschaftskolleg auf den Berliner Wissenschaftsbetrieb im allgemeinen?

Paradoxerweise ist es so, daß unsere Wirkung außerhalb vielleicht stärker ist als in Berlin. Das hängt damit zusammen, daß Berlin natürlich ein hervorragender Wissenschaftsstandort ist und wir nicht im Ernst in Anspruch nehmen könnten, hier in Berlin eine zentrale Rolle zu spielen.

In Berlin verstehen wir uns vor allem als Katalysator, bemühen uns, Anregungen zu geben. So ist etwa durch unsere Mitarbeit, aber eben in einem Kranz von Berliner Institutionen, jetzt am Centre Marc Bloch am Schiffbauerdamm ein Forschungsverbund Sozialanthropologie gegründet worden. Dieser Verbund beschränkt sich übrigens nicht nur auf Berlin, sondern schließt neben den Berliner Universitäten auch Frankfurt (Oder) und die Universität Potsdam mit ein. Es geht uns darum, Aktivitäten, die es in Berlin schon gibt, miteinander zu vernetzen und zu stärken.

Welchen Beitrag kann das Wissenschaftskolleg dazu leisten?

Das Wissenschaftskolleg kann in doppelter Hinsicht helfen: Einmal, indem wir dazu beitragen, Anregungen solcher Art institutionell umzusetzen, und zweitens, indem wir durch die Einladung von entsprechenden Fellows das intellektuelle Gewicht solcher Vorhaben nachhaltig unterstützen. Ein praktisches Beispiel: Wenn etwa im Bereich der Islamwissenschaften jemand wie Clifford Geertz regelmäßig nach Berlin kommt, dann ist dies ein großer Gewinn für die wissenschaftliche Gemeinschaft in dieser Stadt.

Welche Rolle spielt für das Wissenschaftskolleg neben dem interdisziplinären Dialog der Austausch zwischen den Kulturen, zwischen den Wissenschaftskulturen?

Ich glaube, es gibt heute ein viel stärkeres Bewußtsein davon, daß Wissenschaft auch so etwas wie ein kulturelles System ist. Und daß etwa nationale Theorietraditionen, nationale Traditionen der Lehre und Forschung im Wissenschaftsbetrieb eine erhebliche Rolle spielen. Und zwar nicht im Sinne eines Störfaktors, den man beseitigen müßte, sondern ganz im Gegenteil, im Sinne einer intellektuellen Herausforderung. Als Beispiel denke ich an die Islamwissenschaften, in denen wir uns zukünftig noch stärker engagieren wollen. In diesem Bereich besteht in Berlin mit dem Forschungsschwerpunkt Moderner Orient und mit der Arbeit anderer Universitäts-Institute eine gute Repräsentation deutscher Traditionen; doch gleichzeitig werden in Berlin am Centre Marc Bloch, repräsentiert durch Wissenschaftler wie Remy Leveau, französische Forschungsansätze gepflegt, die sehr viel stärker politologisch orientiert sind, sehr viel stärker auf die praktische Ausbildung etwa von Diplomaten ausgerichtet sind. Die Zusammenführung dieser beiden Traditionen und auch ihre gelegentlich kritische Konfrontation ist von ganz großem Vorteil.

Hinzuweisen wäre hierbei auch auf unsere Zusammenarbeit mit dem Jerusalemer „Van-Leer-Institute“, mit dem wir – dank großzügiger Förderung durch die Volkswagen-Stiftung – das Projekt „Europa im Nahen Osten“ realisiert haben; ein Forschungsprojekt, in dem israelische, palästinensische und deutsche Wissenschaftler über das Erbe Europas, vor allem auch das Erbe der europäischen Aufklärung in der Region arbeiten.

Welche Bedeutung messen Sie dem Wissenschaftsaustausch mit außereuropäischen Kulturen bei?

Eine sehr wichtige! Autoren wie Paul Valery haben prophetisch bereits nach dem Ersten Weltkrieg formuliert, daß die Europäisierung der Welt in einem gewissen Sinne zu Ende gekommen ist – nicht im ökonomischen, aber doch im geistigen Sinne. Das Kolleg hat sich in den letzten Jahren stärker außereuropäischen Einflüssen geöffnet. Dieses Jahr haben wir unter anderem drei Wissenschaftler aus Indien, drei Wissenschaftler aus den arabischen Ländern und einen aus Schwarzafrika eingeladen. Diese Perspektiven werden wir in Zukunft noch verstärken.

Ich glaube, die europäischen Intellektuellen sind an einen Punkt gekommen, an dem sie mehr zuhören müssen. Die europäischen Intellektuellen haben bis jetzt vor allem gesprochen und gelehrt, auch belehrt. Ich finde den Eurozentrismus vieler Diskussionen, die wir in Europa miteinander führen, geradezu atemberaubend.

Mir erscheint es wichtig, daß die europäischen Intellektuellen stärker in die Rolle derer rücken, die zuhören und lernen. Meine eigene Erfahrung, nicht zuletzt auch im Kolleg, zeigt, daß wir in der Tat etwa von japanischen, von afrikanischen, von indischen Wissenschaftlern oder von Kollegen aus Südamerika eine ganze Menge lernen können. Nur zum Vorteil für unsere eigene wissenschaftliche Arbeit.

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