: Der Maschinist der Träume
Der Mann, der (fast) niemals lachte: Die diesjährige Retrospektive ist Buster Keaton gewidmet ■ Von Georg Seeßlen
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Man kann Buster Keatons Filme sehr einfach und sehr kompliziert beschreiben: aus ein paar Lebenserfahrungen und ein paar handwerklichen Kniffen heraus; oder unter Zuhilfenahme von einem halben Meter Bücherregal und vielen Fremdworten; als Praxis eines Menschen, der wußte, wie man uns lachen macht; und als Theorie von einem, der an der Erkennbarkeit der Welt so seine Zweifel hatte. Aber vielleicht kann man Buster Keatons Filme auch dazu verwenden, zu zeigen, daß die Metaphysik ja auch nichts anderes ist als ein Reflex der Sinnlichkeit, die philosophische Suche sich von dem Blick nicht so himmelhoch entscheidet, den Buster in die Ferne richtet. Das richtig Komische verbindet das Hohe und das Niedrige auf eine Art, daß glücklicherweise beides nicht mehr sagen kann, wo es ist.
Wie wird die Welt erfahren? Durch die Reise, durch den Traum, durch den Blick der Liebe und durch die Erkenntnis. Dem steht entgegen: die Fremdheit, die Gesellschaft, die Mechanik, die Einsamkeit. Was den Blick der Liebe, die Erfahrung der Welt, den Traum zerstört, ist in der populären Mythologie des 20. Jahrhunderts zum Beispiel die in der Maschine verdinglichte Kraft gesellschaftlicher Unterdrückung. Wir begegnen in der Regel der Maschine, der mechanischen wie der sozialen, als verdrehte Romantiker, die die Maschine nicht haben und haben wollen, oder als verdrehte Technosophen, die sie haben und nicht haben wollen. Nur Buster Keaton hat die Maschinen geliebt, die Eisenbahnzüge, Ozeanschiffe, Flußdampfer sowieso, aber auch die vielen kleinen Maschinen des Alltags. Als hätte er in ihnen die Seele entdeckt, die er bei den Menschen nicht fand, als fände er in ihnen die Geborgenheit, die das weite und fremde Land nicht bietet, in das man ihn bei Gelegenheit stößt. Genügend Paradoxien, genügend Poesie, genügend Komik in den Filmen von Buster Keaton kommt aus der Fähigkeit eines zärtlichen Blicks auf Maschinen.
Charlie Chaplin findet sein Glück nur dort, wo er der Gesellschaft und der Maschine entkommen kann, denen er nur seine Fähigkeit zu beinahe grenzenloser Grausamkeit entgegensetzen kann. Und wenn Laurel & Hardy eine Maschine bedienen wollen, bringt das sie und ihre Umwelt unweigerlich in die Katastrophe, und die Katastrophe wird zum Normalfall. Eine Maschine ist dazu da, etwas kaputt zu machen oder selbst kaputt gemacht zu werden. Harold Lloyd überlebt durch seinen unerschütterlichen Optimismus die Maschine Großstadt, aber sie wird nie die seine. Buster Keaton dagegen steht immer ganz unschuldig vor der Maschine; er muß sie entdecken, und sie produziert unter seinen Blicken und Händen das, wofür sie möglicherweise nicht gedacht war: das Wunder.
Der Blick der Liebe ist für Buster Keatons Filmcharakter der auf die Frau, die sich abwendet. Warum wendet sie sich ab? Auf den ersten Blick ist es der immer viel größere, viel stärkere, viel erfolgreichere, viel gemeinere Rivale, der dafür sorgt. Auf den zweiten Blick sehen wir das familiäre, soziale System, das die Liebenden trennt (nur die Unerreichbarste kann die Buster Bestimmte sein) – voreingenommene Väter, hämische Brüder, Regeln, nichts als Regeln. Buster Keaton und seine Geliebte müssen immer in einer Männerwelt zueinander finden, in der alle Erfolgreichen so tun, als hätten sie die Regeln durchschaut, und in der die Frauen auf fatale Weise an die Welt der Regeln verloren scheinen. Inmitten einer Verfolgungsjagd beginnt Busters Braut in „The General“ den Besen zu schwingen. Sollen wir sie lieben oder verdammen dafür?
So entsteht für Buster die Notwendigkeit der Reise, der Verlust der Frau und der Maschine (wie in „The General“) treibt ihn um, ganz allgemein: zu sein, wer man sein soll, aber ohne davon berührt zu sein. So ergibt sich in seinen Filmen als erstes ästhetisches Prinzip der Kreis. Die Geliebte, die ganz nah neben ihm, aber abweisend ist, weist den Weg zu einer Reise rund um die Welt, damit man einander wahrhaft mit anderen Augen sehen kann (mit den Augen der Lernenden an der Welt).
Buster Keaton ist gesellschaftlich nicht vorgeprägt; er hat weder einen festen Platz noch eine fixe Strategie. Er ist sehr häufig ein verwöhnter Millionärssohn, der für die Fährnisse des wirklichen Lebens ganz und gar nicht vorbereitet ist, aber genauso oft ist er „ein armer Arbeiter, aber ehrlich“ (Keaton); manchmal versteht er von gar nichts etwas, manchmal von etwas zuviel. Buster Keatons Wesen besteht nicht in dem Bild, das er gibt, sondern in dem Blick, den er wirft.
Weil ihn die Frau verschmäht, macht er sich mit den Maschinen davon, um sie anderswo zu retten, und in seinen schönsten Filmen beginnt in diesen Maschinen ein pragmatischer pionierhafter Blick der Liebe. Aber dazu müssen beide die Maschinen verwandeln, unendlich variieren und beleben; in „Our Hospitality“ werden Postkutsche und Eisenbahn gekreuzt, in „The Navigator“ bekommt eine Maschinerie, die viel zu groß für zwei Menschen ist, ihren Sinn, in dem man sie, nicht unkompliziert, auf eine menschliche Aufgabe reduziert, auf die Herstellung von Frühstück zum Beispiel.
Die Frau, der Mann, die Maschine. Diese Beziehung des Industriezeitalters, die ihr einziges Glück darstellen konnte, wurde von allen Kräften negiert; nur in Buster Keatons Filmen gibt es so etwas wie ein utopisches Zueinander. Daß wir seine Unfähigkeit zur sozialen Mimikry, zum Theater der Gefühle nur als Defizit erkennen, macht uns vergnügt und ratlos vor seinen Filmen; auch das Kino ist eine Maschine. In „The Cameraman“ erfindet Buster ein paar der guten und nicht so guten Tricks des Kinos, weil ihm der Gebrauch seiner Maschine in nichts konventionell ist, und in „Sherlock jr“ begibt er sich einfach in die Kinohandlung, um seine Probleme zu lösen.
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DAS LEBEN LERNEN (ODER AUCH NICHT). Buster wird stets ins Leben geworfen, für das er keineswegs vorbereitet ist. Das Weltfremde bestimmt den Ablauf seiner Selbsterziehung. Ihm fehlt die erlernte Fähigkeit zur Anpassung und zur Verstellung ebenso, wie ihm die personale Beeinträchtigung fehlt. Seiner Umwelt kommt es vor, als habe da ein Kerl, der keinerlei Stärke und Kompetenz aufweist, ein durch jede Art von Schlägen unerschütterliches Selbstbewußtsein. Aber Selbst- Bewußtsein ist eben das, was bei Buster Keaton gar nicht vorhanden ist. Es ist fast nichts Erlerntes in ihm, und daher tut er alles, als wäre es das erste Mal. Er ist seine eigene Zivilisationgeschichte, und die kann man vorwärts und rückwärts lesen.
Die Utopie der Liebe ist nicht romantisches Geglotze oder korruptes Gegrinse, sondern die Teilung dieser Zivilisationsgeschichte. In „The Navigator“ versuchen Buster Keaton und Kathryn McGuire auf dem herrenlosen Ozeanschiff ein Essen zuzubereiten. Noch wissen sie nicht, daß man Kaffee nicht mit Salzwasser kochen und wie man Dosen öffnen kann. Aber „Wochen später“, wie uns der Zwischentitel belehrt, haben sie eine gigantische Frühstücksmaschine entwickelt, von der sie sich bedienen lassen. Der Mann, die Frau, die Maschine – nicht füreinander bestimmt und doch zueinander passend jenseits der Sprache.
Daß die Richtigkeit von Busters Handlungen in ihrer Falschheit liegt, daß er den strategisch wichtigen Treffer in „The General“ nur erzielt, weil er die Kanone falsch bedient, macht nicht nur die Mechanik seiner Gags aus. „Wenn man Harold Lloyd von der Farm wegholte und in die Ford-Motoren-Werke steckte, würde er verstört sein und nichts anfassen, bis er von einem der Vorarbeiter dazu gezwungen wird. Was mich betrifft, ich wäre genauso ängstlich, aber für mich wäre es selbstverständlich, daß ich eigentlich meine Arbeit verstehen müßte. Also fange ich sofort an herumzuprobieren. Natürlich mache ich alles kaputt – das würde passieren, weil ich nicht weiß, wie etwas funktioniert, und ich es trotzdem probiere.“
Buster muß auf alles unmittelbar reagieren, was sich vor seinen Augen abspielt. Er nimmt nicht den Umweg über die sozialen Systeme, über Mythos und Erziehung, und er wird daher zum Liebling des Surrealismus und der Strukturalisten, auch wenn er in Wirklichkeit und nur zum Beispiel im Sinne von Kracauer vor allem Realist ist. Im übrigen gibt es nicht die Gerechtigkeit, die alles wieder erklären würde. In „Battling Butler“ ist er als der Mensch, der von allen zum Boxer am ungeeignetsten erscheint, so erniedrigt, daß er wirklich zuschlägt, das hat er schon in „Three Ages“ getan, und da ist nichts mehr komisch und nett, da bringt er nur die unterdrückte Gemeinheit im Ritual wieder direkt heraus und schlägt noch auf den Gegner, der schon am Boden liegt.
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Was er tut, macht Buster Keaton mit ernsthaftem Gesicht; es ist das Gesicht eines im Spiel konzentrierten Kindes, aber auch das eines partiell Abwesenden. Schließlich ist er nicht allein der Träumende, sondern vielmehr der Motor, der Maschinist der Träume, der alles in Bewegung setzt, ohne möglicherweise davon bewegt zu werden. Ganz buchstäblich erweist er sich immer wieder als das Auge des Hurrikans, der Augenblick der Ruhe in einer Welt im Aufruhr; die Pointe in der Katastrophe: Wenn eine Häuserfassade durch den Sturm auf einen Menschen stürzt, wie in „Steamboat Bill jr“, dann steht Buster Keaton genau dort, wo die Fensteröffnung ist. Und Keaton hat diese wahnsinnige Szene in einem take drehen lassen, während die Techniker und Kameraleute sich vor Furcht abwenden mußten, weil die Schönheit und Direktheit seiner großen Filme eben darauf beruhten, daß er ganz und gar wirklich genauso schnell und direkt auf die Herausforderungen reagierte wie seine Filmperson.
Das Nicht-Synchrone von Ich, Regel und Welt macht uns schaudern und lachen. In „The Navigator“ arbeitet Buster Keaton im Taucheranzug auf dem Meeresgrund. Er nimmt einen Eimer, wie sich das gehört, und wäscht sich darin die Hände. Dann schüttet er den Eimer aus und will sich mit einem Tuch die Hände trocknen. Bei Buster Keaton treten Regeln, vor allem und immer wieder die Regeln des Sports, der Arbeit und der Liebe als sie selber, als Sprache jenseits des Gesprochenen hervor. Und die Gesetze der Physik werden luzide in der Bewegung des Menschen; in „The Cameraman“ läutet unten im Erdgeschoß das Telefon, und Buster saust hinunter, weil er einen Anruf seiner Geliebten erwartet, aber seine Energie trägt ihn weiter, er landet im Keller, und als er zurückkehrt auf das richtige Level von Emotion und Architektur, erfährt er, daß der Anruf gar nicht ihm gegolten hat. Betrübt geht er wieder nach oben, weiter als er sich Behausung gesucht hat, im Dachboden hält er verdutzt inne. In „The Three Ages“ betritt er von links ein Taxi, verläßt es rechts gleich wieder aus seiner Bewegung heraus, und hält doch inne, um zu bezahlen. Weg durch Zeit ist einerseits Geschwindigkeit und andererseits politische Ökonomie. Bei Buster Keaton ist sie ziemlich relativ.
Was sich vor seinen Augen abspielt, darauf reagiert Buster direkt; er hat kein Ziel, keinen Plan, keine Gewohnheit, die über die mechanische Wiederholung einmal erfahrener Impulse hinausginge. Das Glück in einem Buster Keaton-Film liegt in der vollkommenen Abwesenheit von Korruption (während man bei Chaplin oder Laurel & Hardy zusieht, wie Korruption belohnt, bestraft, verteilt wird). So könnte sie für den Augenblick sein, was der Fall ist, und nicht, was wir uns vormachen.
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DER RAUM UND DIE ZEIT. In Buster Keatons Filmen hat alles einen Platz in der Kette von Aktion und Reaktion. Wir finden möglicherweise keine Ur-Sache, aber definieren uns vollkommen im Newton-Universum. In „The Navigator“ sehen wir in einer Totalen das Schiff, auf dem Buster und seine Braut sich befinden, ohne einander finden zu können. Wenn Buster eine Treppe rechts hinaufläuft, kommt seine Braut gerade auf der anderen Bildseite links herunter; wenn er ins Bild stürmt, verläßt sie es nach der anderen Seite; die Wirklichkeit bietet eine Vielzahl an Möglichkeiten, sich zu verfehlen. Und nirgendwo verlassen wir die Wirklichkeit in den Filmen von Buster Keaton. Sie ist nur sehr fremd.
Die Liebe ist kein Gefühl, sondern einerseits eine Tatsache und andererseits ein Problem von Raum und Zeit. In „Seven Chances“ muß Buster in einer vorgegebenen Zeit heiraten; häufiger ist es, daß der Raum die Beziehung definiert, und am schönsten ist die Beziehung in der Maschine.
Die Liebe ist daher weder Zufall noch Himmelsmacht; sie will hart erarbeitet werden; sie ist nicht die Lösung, sie ist das Problem. Buster Keaton ist in seinen Filmen der Mensch, der für die gewaltigen Aufgaben, die ihm gestellt sind, denkbar ungeeignet ist, und sein Love Interest ist die Frau, die ihm ganz nah und denkbar weit entfernt ist. Sein Blick auf die Welt erwartet das Schlimmste und das Beste im selben Gleichmaß. Wenn es aus den Fenstern Konfetti regnet, mag Buster das auf sich selber beziehen, was einem gewissen Lindbergh gilt, so wie er von jedem Menschen und jeder Situation die Katastrophe erwartet, in der er sich ohne Bewußtsein bewähren wird, in purer Gegenwärtigkeit der Reaktion.
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Wie kommt ein solcher Blick zustande? Joseph Frank Keaton wurde 1895 in Pickway in einer Artistenfamilie geboren und stand, nein, stehen ist nicht das richtige Wort, schon mit drei Jahren zusammen mit seinen Eltern auf der Vaudeville-Bühne. Am Anfang hatten seine Eltern ihn bei den jeweiligen Vermietern unterzubringen versucht, aber das hatte immer wieder zu mittleren Katastrophen geführt. Joseph wurde eingesperrt und versuchte sich zu befreien, da war eine Welt zu entdecken. Als er es einmal wieder geschafft hatte und die Treppe herunterfiel, deren Beschaffenheit er, ohne Heimat, nicht kennen konnte, schüttelte ein befreundeter Entfesselungskünstler den Kopf: „That's some buster, your baby took“ (einen tollen Sturz hat euer Baby da hingelegt). So viel zum Namen, so viel zum Gefühl. Baby Buster wurde fortan mit auf die Bühne genommen und war bald der Star unter den „3 Keatons“. Der Vater, übrigens trunksüchtig wie die meisten Väter von begnadeten Komikern, pflegte ihn dann auf die Bühne zu schleppen, um ihn möglichst gemeinen Torturen auszusetzen, als wäre er ein einigermaßen nutzloses Ding. „Es begann damit“, schreibt Keaton in seiner Autobiographie „My Wonderful World of Slapstick“ (1960), daß der Vater „mich auf die Bühne trug und auf den Boden fallen ließ. Als nächstes kehrte er mit mir den Boden zusammen. Da ich nicht das Geringste dagegen tat, warf er mich in den Orchstergraben auf die Baßtrommel. Wenn ich lächelte oder das Publikum sonstwie merken ließ, daß mir die Sache Spaß machte, wurde weniger gelacht als sonst. Vermutlich erwarten die Leute einfach nicht, daß ein menschlicher Staubwedel, Putzlumpen, Bohnensack oder Fußball an dem, was ihm angetan wird, auch noch seine Freude hat.“
So einfach ist also die Grundkonstellation der Keaton-Komik: der Mensch, der immer fällt, herumgeschubst und geworfen wird und dabei keine Miene verzieht, und wir dürfen es uns aussuchen, ob er sein Stone Face aufgesetzt hat, um zu verbergen, daß es ihm trotz allem Spaß gemacht hat, oder aus bitterem Haß oder gar aus einer Mischung aus beidem. Zwischen dem grinsenden Vater und der weißgekleideten Mutter mit dem Saxophon auf dem Schoß, der schönen Maschine, stand der kleine Buster mit angeklebtem Bart als der kleinste und jüngste Komiker der Welt, ein Mensch ohne Kindheit. Ich ist einerseits die Übertragung der Liebeserwartung von nahen Menschen auf das ferne Publikum, vom Hier zum Dort, das in Busters spähendem Pionierblick gesucht wird, und andererseits die Ersetzung der Erziehung durch das Experiment. Buster Keaton tut in seinen Filmen der Welt nichts anderes, als ihm getan wurde. Nur ist er dabei sanfter.
Mit dem „Gesicht des Jongleurs, das weder Anstrengung noch Anteilnahme verrät“, so James Agee, versuchte sich Keaton 1917 in New York selbständig zu machen. Berühmt genug war er, gleich eine Rolle in der Schubert- Revue im Winter Garden zu bekommen. Aber am Tag vor der Premiere führte ihn der Filmkomiker Roscoe „Fatty“ Arbuckle in sein Studio. Buster war skeptisch, sein Vater mochte den Film nicht, und außerdem verdiente man damals im Kino viel weniger als auf der Bühne. Er schaute durch eine Kamera, und da war es um ihn geschehen; so ließ sich die verlorene Macht über die Welt zurückgewinnen und die magische Biographie zugleich fortleben, und es gab in keiner Weise mehr einen lebenden Staubwedel, im Wintergarten oder sonstwo.
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Nicht die Konstruktion der Figur, sondern der Blick durch die Kamera bestimmt Buster Keatons Filme. Die wichtigsten Konstruktionsprinzipien seiner Filme sind sehr einfach: Es sind der Kreis, die Bipolarität und das Prinzip der Beschleunigung. Der Kreis beseelt die Fatalität. Je zielstrebiger und energischer Buster vorgeht, desto sicherer gelangt er genau dorthin, wo er seinen Ausgang genommen hat. Die Braut, die ihm nicht bestimmt scheint, die alles und jeder ihm vorenthalten will, einschließlich ihr selbst, zwingt ihn auf die gefahrvolle Reise rund um die Welt, und die Maschine und das Tier werden seine Begleiter – wo ist der Unterschied –, bis er von ihrer rechten auf ihre linke Seite gelangt ist. Aber das Prinzip der Bewegung im Kreis gibt es immer wieder auch in der direkten Komposition von Bild und Gag, am schönsten in „Steamboat Bill jr“, wo er auf dem und im Antriebsrad eines Flußdampfers Formen von Bewegung und Ruhe durchprobieren muß. Buster macht aus allen Maschinen, die ihm begegnen und die er liebt, Bewegungsmaschinen, Muttermaschinen, Weltmaschinen. Er selber hat in seinen Filmen keine Mutter, und Väter nur, insofern sie enttäuscht und enttäuschend sind. Und seine Bräute, sehr individuelle Menschen auch sie, müssen immer erst einmal von einer väterlichen Kategorie befreit werden. Dann werden auch sie zu tätigen und autonomen Wesen. Aber um ihn bildet sich der Kreis (wie es die Kühe in „Go West“ machen), um sich beschreibt er den Kreis in seiner scheinbar so willkürlichen Reaktion auf die Welt.
In der Kreisbewegung der Handlung gibt es in seinen großen Filmen immer wieder einen polaren Punkt des Umschlages; das, was ursprünglich fremd und feindlich war, wird nun dienstbar und vertraut. Die Maschine, die drohte, wird zum nützlichen Vehikel, das Tier, das drohte, zum Freund. Die Zärtlichkeit, die kein Mensch geben kann, offenbart sich in der Maschine und in der Form der Bewegung.
Die Pointe in Buster Keatons Filmen ist nicht, worauf etwas hinauswill. Und schon gar nicht löst sie etwas auf. Im Gegenteil, sie produziert stets die nächste, die sich in Raum und Zeit ausgedehnt hat, immer gewaltigere Mengen an Energien, Objekten, Menschen betreffend. Dieses Prinzip der Steigerung allein wird früher oder später Mechanik und Metaphysik miteinander in Berührung bringen. Wenn Keaton und seine Liebste in Filmen wie „The Navigator“ oder „The General“ einander um so sicherer verfehlen, je mehr sie ihre Bewegungen beschleunigen, und sich um so sicherer treffen, wenn sie, melancholisch vielleicht, sich beruhigen, will ich nicht mehr von Mechanik oder Philosophie sprechen. Nur die Errichtung der Idylle bleibt absurd. In dem Kurzfilm „One Week“ (1921) errichtet Buster für sich und seine Braut ein praktisches Fertigheim, allerdings hat der böse Rivale die Kisten vertauscht. Und obendrein kommt auch noch ein Wirbelsturm. Die Katastrophe ist für Buster nicht das Problem; in ihr wird er sich immer bewähren, das Furchtbare ist der Normalfall. Wenn ein Schiff im Hafen liegt, wird Buster es schaffen, irgendwie herunterzufallen; wenn es im Sturm dem Untergang nahe ist, dann wird es Buster gelingen, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um es ganz gegen jeden religiösen und technischen Plan so zu steuern, daß er alle für ihn wichtigen Menschen rettet.
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Auch Buster weiß, da ist er anderen im Fach weit überlegen, daß man im Leben jemand anderes werden muß. Aus einem Bücherwurm muß ein Sportler werden, wie in „College“, aus einem Luxuskid ein Vollmatrose, aus einem Lokomotivführer ein Soldat, undsoweiter. Die Verwandlung funktioniert nie, solange Buster es den anderen nachmachen und die Regeln erfüllen will. Erst wenn es ernst wird, die Liebste in Gefahr ist zum Beispiel, gelingt ihm alles, weil er die Regeln selbst zu bestimmen weiß. Buster, anders als Chaplin und einige seiner Zeitgenossen, verändert sich. Er macht Erfahrungen, nichts an ihm, außer dem fragenden Blick vielleicht, heischt nach Ewigkeit. Da ist die Landschaft. Da ist die Gesellschaft. Da ist die Maschine. Buster probiert alles aus. Und wir probieren es mit ihm, weshalb all die großen Buster- Keaton-Filme immer auch Filme über das Kino sind, Filme zum Sehenlernen. Keatons Filme haben mehr mit Western gemeinsam als die Filme seiner Konkurrenten; seine Landschaften sind in eine wundervolle Tiefe hinein komponiert, und zugleich erfahren seine Figuren das Land als das Fremde, das um so unbegreiflicher wird, je mehr man es an den Rändern bezwingen mag. Buster Keaton muß nur etwas ansehen, und schon ist es vollkommen fremd. Aber wie verhalten sich Blick und Bild? Buster Keaton sieht immer ferner als irgendetwas zurückblicken könnte.
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Zwischen 1923 und 1928 inszenierte Keaton als sein Produzent, Hauptdarsteller, Drehbuchautor und (mindestens) Co-Regisseur neun lange Spielfilme, die zum Wichtigsten gehören, was die Kinogeschichte hervorgebracht hat. 1928 verkaufte er sein eigenes Studio, eher zwangsweise, und drehte, beginnend mit „The Cameraman“, für MGM Filme, in denen er nicht mehr die letzte Kontrolle hatte. Schöne Filme noch, Filme, die sich langsam zersetzende Phantasien über Buster Keaton waren. In seinen Tonfilmen entwickelte er eine andere Figur, einen ewigen Loser namens Elmer, der imgrunde wieder das nun zerfallende Gesicht des lebenden Staubwedels hatte. Noch ein Kreis schloß sich für Buster Keaton. Er war ein Gespenst in Filmen von Charles Chaplin, Richard Lester und Billy Wilder.
Wir entdeckten ihn wieder oder, hauptsächlich, zum ersten Mal am Beginn der sechziger Jahre, als wir das Kino wieder oder überhaupt zum ersten Mal entdeckten als eine Maschine, der man Fragen stellen kann. Und jetzt ist noch einmal die richtige Zeit dafür.
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