: „Die Konkurrenz wird immer größer“
Bereits zehn Prozent der Ärzte in Berlin sind arbeitslos / Qualifizierungsprogramme sollen Chancen verbessern / Beratungsstellen verweisen auf andere Tätigkeitsfelder im Gesundheitswesen ■ Von Anja Dilk
Tag für Tag versorgt Jenny De la Torre Patienten mit Abszessen, Hauterkrankungen und Sturzverletzungen. Seit Juni 1994 verarztet die Kinderchirurgin Menschen ohne festen Wohnsitz in der Medizinischen Obendachlosenhilfe der Ärztekammer in Berlin. Nach dem Abschluß ihrer Facharztausbildung an der Charité war sie arbeitslos geworden. In der Obdachlosenhilfe fand die Vierzigjährige eine Beschäftigung. Zur Arbeit gehören auch die psychologische und die soziale Beratung. „Hier ist es ganz anders als in einer schönen, reinen Klinik“, sagt Jenny De la Torre, „Wenn man das gesehen hat, hat man schon enorm viel gelernt.“
Die Obdachlosenhilfe ist eines von vielen Projekten, mit denen die 1991 auf Beschluß von Landesarbeitsamt, Ärztekammer und Land Berlin gegründete „Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft“ (BQG) die steigende Arbeitslosigkeit im medizinischen Bereich auffangen helfen möchte. Arbeitslosen Ärzten und Mitarbeitern im Gesundheitswesen soll eine Beschäftigung geboten werden, bei der sie sich nebenher weiterqualifizieren können. 92 der bisher 400 Mitarbeiter konnten bereits aus der Maßnahme in eine Festanstellung gehen.
Mehr als 1.000 arbeitslose Ärzte waren im Dezember 1994 bei den Arbeitsämtern in Berlin gemeldet. Im Westen sind es deutlich mehr als im Ostteil der Stadt. Die Dunkelziffer liegt erheblich höher. Denn viele melden sich erst gar nicht arbeitslos. Wer beispielsweise ohnehin keinen Anspruch mehr auf Arbeitslosengeld hat oder sich aus Altersgründen ohnehin keine Chancen ausrechnet, scheut oft den Gang zum Arbeitsamt. Die Ärztekammer geht von etwa 1.400 Arbeitslosen aus, das sind etwa 10 Prozent der Berliner Ärzte. Tendenz steigend. Bundesweit strömen jährlich rund 9.000 neue Ärzte auf den Arbeitsmarkt, rund 700 sind es in Berlin. „Die Situation wird sich in den nächsten Jahren verschärfen“, schätzt Anne-Margret Baumann, Geschäftsführerin der Ärztegewerkschaft „Marburger Bund“. „Immer mehr Krankenhäuser werden privatisiert, Betten gestrichen.“
Schon für die Weiterbildung zum Facharzt sind die Stellen dünn gesät. 70 Prozent der Verträge an den Krankenhäusern sind nur befristet. Hat man eine Stelle, wartet spätestens nach dem „Facharzt“ meist die Entlassung. Und seit der Verabschiedung des Gesundheitsstrukturgesetzes (GSG) ist es für Ärzte schwerer, sich niederzulassen. „Auch wenn es noch einige freie Bezirke gibt, zum Beispiel in Berlin-Hohenschönhausen“, sagt Ulrike Hinney von der Kassenärztlichen Vereinigung in Berlin, „ist die Situation insgesamt sehr schlecht.“ Steigende Praxiskosten und sinkende Honorare machen es vor allem neuen Praxen schwer, sich zu behaupten. Ein Ausweichen in ländlichere Gebiete ist kaum eine Alternative. „Eine Unterversorgung, wie noch vor zehn bis fünfzehn Jahren, gibt es in Deutschland nicht mehr“, resümiert Anne-Margret Baumann vom Marburger Bund.
Beratungsstellen setzen immer mehr auf alternative Beschäftigungsmöglichkeiten. Als Gesundheitsberater oder in der Umweltmedizin beispielsweise. „Manche Mediziner bestehen aber sehr auf ihrem Berufsbild, für das sie ja auch jahrelang studiert haben“, sagt Irene Ohl von der Beratungsstelle für arbeitslose Ärzte „KISA“. „Man muß ihnen klarmachen, daß die Konkurrenz immer größer wird.“ Der Arbeitskreis „Arbeit“ bei der Ärztekammer untersucht die Möglichkeiten von Teilzeitarbeit im ärztlichen Bereich. An einem Berliner Krankenhaus sollen Arbeitszeitmodelle erprobt werden. Letztlich müsse man bei der Zulassung zum Studium ansetzen, glaubt Anne-Margret Baumann, „denn wir können es uns nicht leisten junge Menschen teurer auszubilden, die sich dann in ganz Deutschland bewerben und doch beim Taxifahren landen“. Der Wissenschaftssenat will auf Basis der geltenden Kapazitätsverordnung bis zum Jahr 2000 die Zahl der Plätze für Studienanfänger in Medizin von 1.000 auf 600 senken.
Die Frauen von der Medizinischen Obdachlosenhilfe suchen langfristig nach Finanzierungsmöglichkeiten, um sich selbständig zu machen. Jenny De la Torre bebewirbt sich weiter. Sie möchte lieber wieder in die Kinderchirurgie gehen. „Denn das ist der Beruf, den ich gelernt habe.“
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