: Es ist, wie es ist
Früher das Land der Pruzzen, nach 1945 „Kaliningradskaja Oblast“: „Kalte Heimat“ von Volker Koepp zeigt Leben am Rande der Welt (Forum) ■ Von Anke Westphal
Bedächtigkeit hat einen Namen: Volker Koepp. Der '94er Bundesfilmpreisträger ignoriert die Erfindung der schnellen Schnitte auch in seinem neuesten Dokumentarfilm „Kalte Heimat“ mit sinnstiftender Rücksichtslosigkeit. Koepps „Kalte Heimat“ ist zwischen Weichsel und Memel gelegen, früher das Land der Pruzzen, später Ostpreußen, nach 1945 „Kaliningradskaja Oblast“, jetzt eine russische Exklave zwischen Litauen und Polen. Tilsit, Rauschen, Königsberg, von der Zeit vergessene Städtchen und Dörfer. Gott, was für ein abgelegener, sprich exzentrischer Drehort.
Volker Koepp hat ihn als „Bild von Wanderungen in diesem Jahrhundert“ ausgewählt. Daß der Regisseur 1944 in Stettin geboren wurde, spielte keine Rolle — Koepp wäre tatsächlich der letzte, der sich in einem persönlichen Heimatfilm entblößen würde. „Ostelbisches“ hat ihn immer interessiert, Ostpreußen ist das Land seines Lieblingsdichters Johannes Bobrowski. Dessen Gedichten und Erzählungen nicht unähnlich wiederholt „Kalte Heimat“ immer und immer wieder ein Panorama bewegungsloser Landschaften: schwermütige Weite, lastende Wolken, Hügelketten, stumme Flüsse und Seen, eisiger Winter, strenger Frühling, eher ärmliche denn altmodisch-bescheidene Ortschaften. Die sind von Russen, Deutschen, Juden, Litauern, Zigeunern und ungefähr vierzig anderen Nationalitäten bewohnt. Eigentlich überflüssig, auf die politische Relevanz hinzuweisen, außer daß sie wichtig ist, den Film konstituiert und dennoch nicht didaktisch exemplifiziert wird.
Regisseur Koepp und — bemerkenswert — Kameramann Thomas Plenert haben ein wunderschönes Fotoalbum zum Sprechen gebracht.
Die Vokabel „Zukunft“ ist hier eine Schimäre, das begreift der Zuschauer sofort. Die Störche auf verfallendem Gemäuer, die alten Kirchen und Holzhäuser könnte man ohne Skrupel pittoresk nennen; Fakt ist, daß der Film sie definitiv zu Bestandteilen eines hoffnungslosen wirtschaftlichen Stillstands macht, ohne ihnen die melancholische Poesie abzusprechen. „Kalte Heimat“ ist eine Zeitreise aus einer hastenden, chromblinkenden Gegenwart in eine andere Gegenwart, die man zur Vergangenheit erklärt hat, präzise, bedrückend, zombiehaft. Die Leute am Weltende wursteln sich mühsam durch, kleines Leben und sind — wie bitter stößt einem das wieder mal auf — der allerletzte, aber einzig konkrete Adressat großer Politik.
Olga, die Russin, der Zigeunerjunge Roman, die Deutsche Edith, eine Jüdin erzählen Geschichte durch Biographie — warum sie leben, wo sie leben, Menschen, die es an den Rand der Welt verschlagen hat. Von den Deutschen, den Russen, Stalin, wem auch immer umgesiedelt, „hin- und hergeschickt“ (Koepp), sitzen sie vor fauligen Schuppen, backen und kochen in Häusern, die manchmal nur noch mit einem Bulldozer renoviert werden können.
Koepp zeigt die Existenz eines Lebens, das kein „schlechteres“, sondern ein anderes und schwereres Leben ist. „Es ist so, wie es ist“, sagt ein Ansiedler, „Amerika habe ich wohl nicht entdeckt.“ Man hat begriffen, aber man lebt nun einmal, ein zwangsläufig langsames Leben zwischen Archaismen und Zuversicht. Quäkerblusen, atemverschlagende Dauerwellen, Mini, Jeansjacke, familiäre Heiratsanbahnung, dann ein vorzeitiges, erbarmungsloses Altern, von keiner Illustriertennorm aufgehalten. Wenn die alte, fröhliche Edith dem Regisseur die Dorfkirche erklärt und danach einen Diener macht, ist das einerseits eine komische, weil vor Äonen verjährte Geste, andererseits fast zum Heulen.
Volker Koepp läßt dem Zuschauer die Wahl zwischen Sentimentalität, Begreifen und sprachloser Fassungslosigkeit. Er zeigt die Bewohner der „Kalten Heimat“ zwar nicht als bloße Objekte, aber – gerade wenn Koepp im Heute ankommt – doch ein wenig als Opfer nicht nur einer tabuisierten Vertreibungsgeschichte, sondern einer Geschichte, deren Wirren generell über das Private hinwegwalzen. Damit hat Koepp die Schnittstelle, um die es eigentlich geht, wieder einmal getroffen. Der Ausgang des 20. Jahrhunderts ist offen und verstellt. Über dieses dreistündige, nicht allein durch seine Länge anstrengende Epos bleibt zu äußern: vorsichtige Bewunderung.
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