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Die Katze im Sack für zwölf Mark

Open-Stage-Abende in der Scheinbar haben keine Konjunktur mehr – die Konkurrenz ist zu groß geworden. So hat sich das Schöneberger Kleinstvarieté etwas Neues einfallen lassen  ■ Von Anke Nolte

Sterne des Entertainments sind in der Scheinbar aufgegangen: Meret Becker hat hier zum ersten Mal gesungen und gepiepst, Detlev Winterberg sich verrenkt und Markus Jeroch sich verhaspelt, Oliver Groszer Bälle und Tassen jongliert, Karl-Heinz Helmschroth seine Augen gerollt. Die kleine Scheinbar war Keimzelle des „neuen Varietés“ in den 80er Jahren – dieser großen Kleinkunst, mit geschickter Ungeschicklichkeit und gespieltem Understatement Kitsch mit Können zu verbinden.

Inzwischen tummeln sich die Stars unterm Sternenhimmel des Wintergartens, im Chamäleon oder in der Bar jeder Vernunft, tingeln oder sind gar ins Fernsehen entfleucht. In der Scheinbar lassen sie sich nur noch selten blicken. Hat die legendäre Experimentierbühne ausgedient?

Die Conférence steht in zehn Minuten

Seit fast zehn Jahren steht die kleine Bühne mittwochs und donnerstags allen offen, die ihre Kleinkunst-Nummer zeigen wollen – oder das, was sie dafür halten. Sie brauchen sich nur zehn Minuten vor Beginn der „Open Stage“ zu melden, ein Conférencier wird auserkoren, der fix das Programm zusammenstellt, sich seine Übergänge überlegt.

Meine Enttäuschung war groß, als die Mittwochsvorstellung neulich mit einer Beratung beginnt, ob sie überhaupt erst beginnen soll. Noch vor einem Jahr genoß ich einen solchen Abend in vollen Zügen, denn die saukomischen Sprüche des Moderators Ecki (Eckart von Hirschhausen) konnten selbst die schlechteste Nummer retten.

Zwei Zuschauerinnen tröpfeln noch hinein. „Also, Kinder, los geht's!“ fordert Stefan Linne, Mitbegründer und Leiter der Scheinbar, die wenigen Freiwilligen auf, die sich heute auf die Bühne trauen wollen. Er fragt, wer welche Nummer hat, und legt die Reihenfolge fest. „Ich bitte an den Schluß“, sagt Raksan, die Bauchtänzerin, schnell. Sie wird der Höhepunkt des Abends sein. Doch retten kann sie ihn auch nicht.

Vor einer halben Stunde noch wollte Stefan die heutige Open- Stage-Vorstellung abblasen, jetzt steht er unverdrossen als Moderator auf der Bühne. Aufmunternd kündigt er an: „Die Scheinbar macht auch schöne Shows.“ Leicht betretene Stimmung, Geräusche von der Straße dringen durch die geschlossene Tür, und Hjalmars unglückselige Geschichte über zerplatzte Bauarbeiter zum Frühstück und Ullis Ringelnatz-Gedicht von der Liebe zu Leichen heben die Stimmung auch nicht gerade.

Stefan kürzt kurzentschlossen das Programm, flüchtet an die Bar zu seinem Rotwein und stöhnt: „Das war der schlimmste Abend in zehn Jahren.“ Er muß feststellen, daß die Open-Stage-Abende in letzter Zeit oft mager ausfallen, mit schlechtem Programm vor wenig Publikum. Dieses scheint etablierter und weniger risikofreudig geworden zu sein. Es läßt sich vom Varieté verwöhnen, trotz oder gerade wegen der vielbeschworenen Rezession. Die Katze im Sack für lächerliche zwölf Mark will es nicht mehr kaufen.

Da quetscht es sich doch lieber in das romantische Spiegelzelt der Bar jeder Vernunft für 30 bis 40 Mark oder haut gleich einen knappen Hunderter für den Wintergarten auf den Kopf. Wenn das Niveau dort einmal nicht stimmen sollte, tröstet das Ambiente.

Am Nachwuchsmangel liegt die Flaute der Scheinbar nicht: „Es gibt tierisch viele junge Varieté- Leute, meint Hacki, Clown und Chamäleon-Leiter, „und die sind gut.“ Hacki hat gut reden, denn die jungen KünstlerInnen reißen sich darum, in die Mitternachtsshow des Chamäleons zu kommen. Sie ist die schlimmste Konkurrenz für die Scheinbar, und Stefan Linne muß wohl schlucken, wenn er von einer „großen Familie“ spricht.

Im Unterschied zur Open Stage wird der Nachwuchs für die Mitternachtsshow vorher ausgewählt. Qualität und ein volles Haus sind das Ergebnis: Das Programm mit Off-Szenen-Charakter im Jugendstilsaal zieht TouristInnen wie StudentInnen gleichermaßen an. Ein weiterer Tummelplatz für junge Talente ist der Nachtsalon der Bar jeder Vernunft (ab März wird es dort zusätzlich den Nachtwuchssalon geben). Auch der Sternenhimmel des Wintergartens ist näher gerückt. Standen sich das Großunternehmen und die Berliner Varieté-Szene anfangs noch reserviert gegenüber, führen die künstlerischen Wege inzwischen schneller zu Herrn Heller.

Jüngstes Beispiel: Steppten die Stepinskis letztes Jahr noch unbekannterweise in der Scheinbar, wurden sie im Januar im Nachtsalon der Bar jeder Vernunft gesichtet und zum Vortanzen bestellt. Eine Woche später waren sie bei der Premiere vom „Stimmungsapplausbravobussibussi“ dabei, der neuen Show des Wintergartens in der Regie von André Heller.

Der Weg nach „oben“ ist nicht mehr so weit

Doch einige Varieté-Leute wissen die Gelegenheit zu schätzen, in der Scheinbar ohne vorherige Prüfung auftreten zu dürfen. Raksan, die ihren Bauch auch im Chamäleon und im Hamburger Schmidt-Theater tanzen läßt, kommt seit Jahren in die Scheinbar, um ihre Tänze auszuprobieren und Freundschaften zu pflegen. „Die Scheinbar ist eine Art Stammkneipe für mich.“ Ulli, der mit dem Nekrophilen-Gedicht, will auf die dichte Atmosphäre in der Scheinbar nicht verzichten. „Heute war es zwar etwas bedrückend, aber da muß jeder durch.“

Für bloße Selbsterfahrung möchte Stefan Linne seine Bühne allerdings auch nicht mehr zur Verfügung stellen. „Und den Arsch spiele ich mir auch nicht mehr ab“, um mit seiner Profi-Pantomime die Show zu pushen. Ab Anfang April wird er den Donnerstag an Gastspiele abgeben, „denn die laufen unheimlich gut“. Damit kann die Scheinbar ihre Kosten decken und vier Arbeitsplätze finanzieren. Doch Stefan verdient keinen Pfennig. Nach fast zehn Jahren Scheinbar-Leitung ist der 34jährige Mime ein bißchen müde geworden.

Demnächst soll ein neuer Chef versuchen, Sponsoren zu finden. Stefan bleibt der künstlerische Leiter und wird sich auf neue Projekte konzentrieren. Eine Idee hat er bereits: Seit diesem Monat dürfen Sprechkünstler an jedem Montag labern, was das Zeug hält. Solches Drauflosreden, Stand-up-comedy genannt, kommt aus England und den USA. Die „Labertaschen“ sitzen mitten in den Zuschauerreihen und stehen einfach auf, wenn sie an der Reihe sind.

Stefan ist sicher: „Solche Comedy-Clubs werden hier bald aus dem Boden schießen“ – wie vor ein paar Jahren die Varietés. Vielleicht wird sich die Scheinbar noch einmal als Vorreiterin einer neuen Kleinkunst-Gattung in Deutschland erweisen. „Das haben wir jedenfalls erreicht: Wir werden in die Varieté-Geschichte eingehen.“

Jeden Montag, 20 Uhr: „Labertasche – Stand-up-comedy Night“; jeden Mittwoch und Donnerstag, 20 Uhr: „Open Stage Varieté“, Scheinbar, Monumentenstraße 9, Schöneberg.

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