: Soweit die Rollen tragen
Die Funktion des Rollstuhls in der deutschen Familienserie. Bestandsaufnahme ■ von Frank M. Ziegler
In Zeitlupe fällt Peter vom Stuhl. Zehn Minuten später fällt er noch tiefer, nämlich ins Koma. Sechs Folgen weiter sitzt er endlich wieder aufrecht – im Rollstuhl. Wird er je wieder laufen können? – Verpassen Sie nicht die nächste Folge von „Marienhof“. Denn bei der ARD-Soap rollen Sie in der ersten Reihe.
Der Rollstuhl boomt. Nie war so viel Rollstuhl wie heute. Vor allem im Fernsehen. Was die Amis uns in den Achtzigern vage vorgespielt haben, das droht in den Neunzigern des deutschen Unterhaltungsfernsehens geradezu fürchterlich einzuschlagen: der Rollstuhlfahrer in der Seifenoper.
Die „Lindenstraße“ protzt ja nun schon seit März 1989 einmal die Woche mit ihrem Dr. Dressler auf Rädern. Und weil sich Doktoren anscheinend besonders gut auf dem Rollsitz machen (sie sind eben doch die direkten Nachfahren der Kentauren, grüßt die säzzerin), dürfen wir auch schon seit rund einem Jahr Herrn Rechtsanwalt Dr. Jo Gerner durch die RTL-Soap- opera „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ rollen sehen. Daily. Warum auch nicht? Dort wo das Schicksal täglich zuschlägt, da dürfen Gummireifen und Sitzkissen nicht vor der Realität versteckt werden. Der Zuschauer will schließlich alles sehen. Wie im richtigen Leben! Und nicht nur einmal die Woche, nein! Von ihm aus zehnmal die Woche! In jeder Serie! Mit jedem Helden!
Die Liste der Serien-Rollis ist so lang wie der Abspann der „Lindenstraße“ nach der Weihnachtsfolge: J. R. Ewing rollte folgenlang durch „Dallas“, König Galen saß angeschossen im „Denver Clan“- Wheelchair, in „Falcon Crest“ traf es Richard Channing und in „Flamingo Road“ die böse Constance Weldon. Selbst Gary Ewing durfte „Unter der Sonne Californiens“ eine Zeitlang nicht auf eigenen Füßen stehen. Aber die Amis sind offenbar gnädiger als wir: Fast alle ihre Soap-Rollis können nach fünf bis zehn Folgen wieder ordentlich laufen. Kein Wunder, wohnen doch all ihre Schickimicki-Intriganten in elend hohen Wolkenkratzern mit ekelhaft hohen Treppen und engen Fahrstühlen. Und, Hand aufs Herz, wer will schon mit angucken, wie ein Rollstuhlfahrer da dreimal pro Folge...
Die Deutschen geben sich, wie stets, bodenständiger. Da halten es die Schauspieler, wenn es denn sein muß, jahrelang im Rollstuhl aus, stellen sich nur noch zur Waschmittelwerbung richtig hin, und keinen langweilt es. Trotzdem drängt sich beim echten Serienfreak langsam die Vermutung auf, daß da ein Drehbuchautor beim anderen abschreibt. Allzu oft und ähnlich bricht das Thema „Held im Stuhl“ dieser Tage über uns herein. Und an Dramatik ist es höchstens noch durch das obligate Soap- „Langzeit-Koma“ der blondgelockten Heldin zu überbieten. Ist das etwa „realitätsnahes Familienfernsehen“?
Wohl kaum. Einzig die „Lindenstraße“ leistete sich für einige Monate, zusätzlich zu Dr. „Lu“ Dressler, einen echten Rolli: der Darsteller des Christoph Bogner saß tatsächlich im Rollstuhl. Aber nun ist er, laut Drehbuch, schon lange, lange fortgezogen, und im Haus Nr. 3 steht wieder (fast) alles auf festen Füßen...
Seit einigen Wochen kommt uns dafür nun täglich die „Verbotene Liebe“ ins Haus geflimmert. Und wer wohnt da in der miefigen Wohnung vom bösen Fitneß-Studio- Macho Oliver Kopp? Sein rollstuhlfahrender Papa! Und wem das nicht reicht, der darf sich seit ein paar Wochen gleich anschließend 30 Minuten „Marienhof“ mit dem rollenden Peter angucken.
Fragt sich nur, wie lange noch? Die Programmvorschauen in den einschlägigen TV-Zeitschriften reden schon vage von der „schweren“, aber „hoffnungsvollen“ Operation. Huch! Peter wird doch nicht etwa wieder laufen lernen?
Und was hören wir denn da Visionäres von RTL? Auch Dr. Jo Gerner von den guten und den schlechten Zeiten bereitet sich auf eine schwere Operation vor? Soll der etwa auch wieder...? Bahnt sich da womöglich schon wieder das „Aus“ für den serienmäßigen Alibi-Rollstuhlfahrer in der deutschen Soap-Ära an? Hat doch kaum richtig begonnen! Hilfe! Stellen Sie sich vor, Dr. Dressler kann plötzlich wieder laufen?!
Aber die neuen Serien haben ja noch einen Trumpf im Ärmel: Sehschwäche! „Was lange läuft, wird endlich blind“, haben uns schon die Amerikaner (bei beispielsweise Blake Carrington) gezeigt. Allein, einen gänzlich Blinden hat bisher nicht einmal die „Lindenstraße“ länger als dreizehn Wochen durchs Programm geschleppt: Stefan Nossek wurde in Folge 132 von einem Auto überfahren. Der blinde Tommi aus den RTL-„Guten Zeiten“ endete als Opfer eines Massenmörders, und die US-Soaps leisten sich ohnehin nur Blinde auf Zeit. Drüben wurden (glückliches Amerika!) bislang noch alle Blinden wieder gesund!
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