: Kafka in Karlsruhe?
■ Bundesverfassungsgericht wies Organklage der Grünen gegen Überhangmandate zurück / Klage wurde zu spät eingereicht / Karlsruhe macht Fristversäumnis geltend / Grüne kritisieren Entscheidung
Karlsruhe/Bonn (dpa/AFP) – Sind in Karlsruhe etwa kafkaeske Zustände eingetreten? Dies fragte sich gestern zumindest der Vorstandssprecher der Bündnisgrünen, Jürgen Trittin, nachdem das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) die Organklage seiner Partei gegen die Vergabe von Überhangmandaten im Bundestag abgewiesen hatte. Die Begründung der Karlsruher Richter: Die Bündnisgrünen haben eine Frist versäumt. In dem gestern veröffentlichten Beschluß heißt es, die Partei hätte ihre Klage spätestens sechs Monate nach der Verkündung des Elften Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes am 27. Juli 1993 einreichen müssen. Der Rechtsanwalt und frühere Justitiar der Grünen, Uwe Günther, warf dem BVerfG vor, es habe die Beachtung der Frist „auf die Spitze getrieben“. Die konkreten Auswirkungen des Gesetzes seien erst nach der Bundestagswahl deutlich geworden. Vorher sei nur eine auf Spekulationen basierende Klage „ins Blaue hinein“ möglich gewesen.
Ausdrücklich wies der Zweite Senat darauf hin, daß er mit dieser Entscheidung keine Stellung zu der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der angefallenen Überhangmandate bezogen habe. Neben der Klage der Grünen wurde eine entsprechende Organklage des erst Anfang 1994 gegründeten „Bürgerbundes“ ebenfalls wegen Fristversäumnis verworfen. Auch die niedersächsische Landesregierung hatte im November 1994 beschlossen, wegen der Überhangmandate zu klagen. Die Klage wurde bisher jedoch nicht eingereicht. Inwiefern das BVerfG-Urteil sich auf das Vorhaben der Landesregierung auswirken wird, sei unklar, erklärte gestern ein Regierungssprecher in Hannover.
Überhangmandate ergeben sich, wenn eine Partei in einem Bundesland mehr Direktmandate gewinnt, als ihr nach Zweitstimmen zustehen. Das System der Überhangmandate führte nach der letzten Bundestagswahl im Ergebnis dazu, daß für einen Bundestagssitz der Grünen rund 4.000 Stimmen mehr abgegeben werden mußten als für einen Sitz der CDU. Ohne die allein auf Erststimmenergebnissen beruhenden Mandate hätte die Koalition nur noch eine Mehrheit von zwei statt zehn Stimmen gegenüber der Opposition.
Die Grünen warfen dem Bundestag als Gesetzgeber vor, an den Regelungen des Bundeswahlgesetzes über die Möglichkeit von Überhangmandaten ohne zusätzliche Ausgleichsmandate für die übrigen Parteien unverändert festgehalten zu haben, obwohl eine unterdurchschnittliche Bevölkerungszahl in den neuen Bundesländern Überhangmandate erkennbar begünstigt habe.
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