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Ein ungewohnt beruhigender Unterton

■ Der wirtschaftliche Teil siner Rede zeigte, wie sehr Jelzin zwischen Forderungen des IWF und politischen Rücksichten in der Heimat hin- und hergerissen ist

Am Anfang seiner Rede rühmte sich der Präsident eines Erfolges: Man habe im letzten Jahr die Inflationsrate im Vergleich zu 1993 um drei, im Vergleich zu 1992 sogar um sieben Prozent senken können, nun liegt sie bei bis zu zwanzig Prozent – im Monat. Insgesamt fiel Jelzins Resümee darum bescheiden aus: „Das Jahr 1994 ist für die wirtschaftlichen Reformen nicht erfolglos vergangen.“ Das bei solchen Gelegenheiten traditionelle Bekenntnis zur Reformtreue, zur Stabilisierung des Rubelkurses und der Wirtschaft brachte Boris Jelzin mit einem ungewohnt beruhigenden Unterton vor.

Dafür hat er allen Grund: Das tschetschenische Abenteuer hat jegliche Kalkulation in der russischen Volkswirtschaft zu einem Ritt über den Bodensee werden lassen. Aber auch abgesehen davon haben mehrere Duma-Beschlüsse in den ersten beiden Monaten dieses Jahres den vorliegenden Haushaltsentwurf der Regierung ad absurdum geführt. Der Vorsitzende des Internationalen Währungsfonds, Michel Camdessus, reiste deshalb in der ersten Februardekade aus Moskau wieder ab, ohne grünes Licht für einen früher in Aussicht gestellten Milliarden-Kredit gegeben zu haben.

Zu häufig hatten die russischen Politiker gesündigt: Ausgerechnet in diesem Jahr beschloß das Parlament, die russischen Sparer für die Verluste zu entschädigen, die sie durch die Inflation seit 1991 erlitten haben. Dann folgte ein Gesetz, das Unternehmen, die von Behinderten betrieben werden oder die Waren für Behinderte produzieren, weitgehend von Steuern und Zöllen befreit. Schon sagen Experten eine „Invaliditätsrate bis zu 100 Prozent“ unter den russischen Produzenten voraus. Zu allem Überfluß erhöhte die Duma dann noch den gesetzlich festgesetzten Mindestlohn von bisher 20.500 Rubel auf mehr als das Doppelte. Zwar kann auch von diesem Betrag noch niemand leben – aber aufgrund dieser Zahl berechnet sich die Höhe zahlreicher Beamtenbezüge. Schon zeigt sich die Fraktion der Agrarier guter Hoffnung: Ein solches Parlament werde unbedingt auch einer weiteren Subventionierung des alten Kolchosen-Systems zustimmen.

Der Präsident schwimmt daher zwischen Skylla und Charybdis: Der wachsenden sozialen Unzufriedenheit stehen die Auflagen des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank gegenüber. Um letzterer gerecht zu werden, hat Jelzin bereits sein in der Verfassung für Extremfälle vorgesehenes Veto gegen die Aufstockung der Sparkonten und die Erhöhung der Pensionen eingelegt. Diese Entscheidung bekräftigte Jelzin auch am Donnerstag: „Wir sollten uns darauf einigen“, sagte er, „daß niemand das Recht hat – weder der Präsident noch die Regierung, noch das Parlament –, irgendwelche Beschlüsse zu fassen, die den Staatshaushalt unterminieren. Der Mindestlohn muß den Kapazitäten des Haushalts entsprechen.“

Die hier demonstrierte Haltung ist dazu angetan, Boris Jelzin in den Augen der zahlreichen sozial Erniedrigten und Beleidigten der russischen Reformen als Vaterfigur endgültig zu disqualifizieren. Da er sich gestern ausdrücklich dazu bekannt hat, an dem für Sommer 1996 festgesetzten Termin für die Präsidentenwahl festzuhalten, muß er diesen Kreisen finanzielle Entschädigungen in Aussicht stellen. Dunkel deutete Boris Nikolajewitsch in seiner Rede an, daß die Regierung eine „Versicherung für alle Einlagen der Bevölkerung“ schaffen wolle. Man kann neugierig sein, ob die etwa hundert nicht vorgelesenen Seiten der Präsidentenadresse diese noch nie dagewesene Institution näher beschreiben.

Im außenpolitischen Teil seiner Rede sprach Jelzin von der Notwendigkeit, Rußland in die übrige Weltwirtschaft einzugliedern. Man müsse ein günstiges Klima vor allem für solche ausländischen Investoren schaffen, die die Exportfähigkeit der russischen Wirtschaft fördern. Gleichzeitig verlieh er aber der Bereitschaft Ausdruck, die noch schwachen russischen Unternehmer und die Landwirtschaft durch Schutzzölle abzuschirmen.

Keine Antwort brachte die Präsidentenadresse auf die Frage, was die RussInnen in diesem Falle dann noch essen sollten – die einheimische Lebensmittelproduktion ist derart spärlich geworden, daß fast nur noch ausländische Markennamen die Regale des Supermarktes um die Ecke zieren. Man müsse, so Jelzin, beim Handel und Wandel mit dem Ausland zwischen „langfristiger Strategie und kurzfristiger Taktik“ unterscheiden.

Die deutliche Verlangsamung ausländischer Investitionen in Rußland deutet unterdessen darauf hin, daß das internationale Kapital für derart feine Unterscheidungen noch kein Gespür besitzt. Alles in allem gleicht das gestern von Boris Jelzin vorgestellte wirtschaftliche Konzept dem des Jägers aus dem russischen Sprichwort: Wer vielen Hasen gleichzeitig nachsetzt, fängt keinen einzigen. Barbara Kerneck

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