: Kopfstand in der Gesamtschule
Kritik an Gesamtschulen auch in Brandenburg / Mehrheit des Landeselternrats lehnt flächendeckende Einführung von Gymnasien aber ab ■ Von Anja Dilk
Es ist mal wieder soweit: Die Gesamtschule, Hoffnungsträger der ReformerInnen der siebziger Jahre, die mittels des Zugangs zu Bildungsgütern die gerechtere Verteilung von Lebenschancen erreichen wollten, ist erneut unter Beschuß geraten. Die kritischen Thesen des „Arbeitskreises Gesamtschule“ aus Nordrhein-Westfalen, Ende Januar der Öffentlichkeit präsentiert, haben der bildungspolitischen Dauerkontroverse über Sinn oder Unsinn des dreigliedrigen Schulsystems auf der einen, der integrierten Gesamtschulen auf der anderen Seite neuen Zündstoff gegeben.
Die Vorwürfe gegen das favorisierte Objekt sozialdemokratischer Schulpolitik: Die Differenzierung nach Fachleistung führe zu einer Frustration der ewig Schlechteren; die Auflösung des Klassenverbandes raube den SchülerInnen dringend notwendige Identifikationsräume. Fazit: Viele Gesamtschulen kombinierten komplizierte Organisation mit bescheidenem Leistungsniveau. Mit Reformen sei da nichts auszurichten.
Kritik wie an Rhein und Ruhr gibt es nach Aussagen des Potsdamer Bildungsministeriums in Brandenburg nicht. Nach dem Landesschulreformgesetz wurden dort 1991 praktisch flächendeckend Gesamtschulen eingeführt. Neben 292 Gesamtschulen, 39 davon mit gymnasialer Oberstufe, arbeiten lediglich 79 Realschulen und 101 Gymnasien. Hauptschulen sind nicht vorhanden. „Die Gesamtschule ist hier alles andere als ein auslaufendes Modell“, sagt Jeanette Lamble vom Bildungsministerium. Die Gesamtschulen seien oft die einzige Möglichkeit, Schülern in einem Flächenstaat wie Brandenburg alle Abschlüsse anzubieten. „Klagen aus den Kollegien sind uns bisher nicht zu Ohren gekommen.“ Auch die Eltern nähmen das Modell gut an. Eine Einschätzung, die Bernd Rudolph, Schulleiter der Gesamtschule Babelsberg, teilt: „Die geringe Fluktuation von Lehrern und die stabilen Anmeldungen von Schülern zeigen, daß die Akzeptanz insgesamt gut ist.“ Es sei aber ein Nachteil, wenn die Gesamtschule zur Regelschule gemacht werde. „Schüler, die nicht an die Gesamtschule wollen, können dort nicht hochgezogen werden. Das ist Augenwischerei, da kann man Kopfstand machen.“
Die Meinungen der Eltern zum Thema Gesamtschule sind nach Ansicht von Udo Winkler, Vorsitzender des Landeselternrats Brandenburg, geteilt. „Dort wo die Gesamtschule mit hohen Schülerzahlen funktioniert, ist sie durchaus wünschenswert“, meint er. „Doch diese Schulform wird politisch gepreßt. Die Schulen füllt man klammheimlich auf, weil sie politisch gewollt sind.“ Die Mehrheit im Landeselternrat hat sich trotzdem gegen die Einführung des viergliedrigen Schulsystems ausgesprochen.
Nach wie vor hat die Gesamtschule mit der Konkurrenz der Gymnasien zu kämpfen. Denn in den Augen mancher Eltern ist das Gymnasium noch immer der beste Garant für eine gute Ausbildung. Ein Aspekt, der gerade in Zeiten drohender Arbeitslosigkeit eine wichtige Rolle spielt. „Von der Wirtschaft werden die Abschlüsse an Gesamtschulen einfach nicht so akzeptiert“, schätzt Udo Winkler, „das sehen die Leute am grünen Tisch nicht.“ Um dem Elternwillen gerecht zu werden, wurde das Landesschulgesetz zum Schuljahr 1994/95 geändert. Nun entscheidet nicht mehr die Wohnungsnähe über die Aufnahme an einer weiterführenden Schule, sondern nur Fähigkeit und Neigung.
In Berlin gibt es etwa achtzig Gesamtschulen, rund die Hälfte mit gymnasialer Oberstufe. Die Berliner Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), die in dieser Schulform nach wie vor das Modell sieht, das allen SchülerInnen am besten gerecht wird, ignoriert Kritik an der Gesamtschule keineswegs. „Probleme gibt es durchaus“, resümiert Gewerkschafterin Erdmute Safranski. Die Kritikpunkte des nordrhein-westfälischen Arbeitskreises an der zu starken inneren Differenzierung, die die SchülerInnen unter besonderen Leistungsdruck setzten, sowie am unpersönlichen Kurssystem kann sie nachvollziehen. „Es geht jedoch um eine innere Reform, nicht um eine äußere Strukturdebatte.“ In Berlin werden Modelle erprobt, die Abhilfe schaffen sollen: Das Team-Kleingruppenmodell zum Beispiel. Eine Gruppe von LehrerInnen ist für die Betreuung einer Stufe über mehrere Jahrgänge zuständig. Die GEW setzt daneben auf eine stärkere Binnendifferenzierung anstelle der Fachleistungsdifferenzierung.
Vor allem sei wichtig, daß abweichende Meinungen offen geäußert werden könnten, um das System zu verbessern, meint René Schwertfeger, ehemaliger Lehrer an der zweiten Gesamtschule in Kreuzberg. „Leider läuft die Debatte manchmal etwas dogmatisch. Kritiker werden schon mal ein bißchen inquisitorisch an den Rand gedrängt.“
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