: „Ein eindeutiger Mord“
Der Bundesgerichtshof entscheidet heute, ob der Massenmord von Caiazzo nach 52 Jahren bestraft wird ■ Von Andrea Dernbach
William H. Stoneman hatte schon viele Tote sehen müssen. Als Kriegsberichterstatter der Chicago Daily News schrieb er seit 1939 über den Krieg Nazi-Deutschlands. Was er am 16. Oktober in Caiazzo, einem Dorf am Fluß Volturno, etwa 80 Kilometer nördlich von Neapel, entdeckte, sollte ihm dennoch für Jahrzehnte im Gedächtnis bleiben: „Die Körper, die ich sah, waren durch Gewalteinwirkung schrecklich verwundet, die Gesichter völlig entstellt. Sie ähnelten stark Leichen, die man auf Schlachtfeldern findet.“ 22 Menschen, vier Bauernfamilien, waren in dem Gemetzel am 13. Oktober 1943 umgekommen, darunter eine im fünften Monat schwangere Frau. Das jüngste Opfer, die kleine Elena Perrone, war gerade drei Jahre alt.
Die Amerikaner, die Caiazzo einen Tag später einnahmen, stellten sofort Nachforschungen an und hatten den Hauptverantwortlichen eine Woche später gefunden: Der 20jährige Wolfgang Lehnigk-Emden, Leutnant in jenem deutschen Panzergrenadierregiment, das Caiazzo besetzt gehalten hatte, war von seinen Kameraden schwer belastet worden. Lehnigk-Emden sei am Abend des 13. Oktober mit der Nachricht aufgetaucht, aus einem der nahen Bauernhäuser habe er Lichtsignale gesehen. Ob ein paar „kräftige Männer“ mit ihm zusammen nachsehen wollten. Zwei Soldaten seien mit ihm gegangen, hätten sieben Männer und Frauen zurückgebracht und erschossen. Dann sei das Trio erneut losgezogen, „um ,die anderen fertigzumachen‘“.
Ein Kapitalverbrechen also, trotz des Krieges gut belegt und protokolliert. Und dennoch ist es bis heute nicht bestraft. Ob das so bleibt, darüber muß am heutigen Mittwoch der Bundesgerichtshof in Karlsruhe entscheiden.
Lehnigk-Emden hatte lange Glück: Er konnte aus einem alliierten Gefangenenlager in Algier fliehen, geriet in britische Kriegsgefangenschaft und kam schließlich frei – möglicherweise durch einen Schreibfehler, bei dem aus „Lehnigk“ „Lemick“ wurde. Nach 1950 lebte er unbehelligt in Ochtendung, einem Örtchen bei Koblenz. Er wurde Architekt, heiratete, war in der örtlichen SPD aktiv und brachte es zum Präsidenten der Großen Ochtendunger Karnevalsgesellschaft. Vor einem Jahr hatte er ein weiteres Mal Glück: Sein Mordprozeß in Koblenz endete mit der Einstellung des Verfahrens wegen Verjährung.
Daß er fünfzig Jahre nach dem Gemetzel in Caiazzo überhaupt noch vor Gericht gestellt wurde, ist einzig dem bei Caiazzo geborenen amerikanischen Freizeit-Historiker Giuseppe Agnone zu verdanken, der aus den Dokumenten in US-Archiven seit Mitte der achtziger Jahre Lehnigk-Emdens Spur nachzeichnete.
Der Versuch, Lehnigk-Emden für seine Verbrechen in Italien wenigstens jetzt zur Rechenschaft zu ziehen, ist unter anderem deswegen gescheitert, weil es im Prozeß vor dem Landgericht Koblenz nur noch mittelbar um diese Verbrechen ging. Dreh- und Angelpunkt war vielmehr die Frage, ob die Justiz sie noch verfolgen darf. Am 18. Januar letzten Jahres urteilten die Richter, sie dürfe nicht. Der Tod der zwanzig Zivilisten in Caiazzo sei verjährt. Es könne nämlich nicht ausgeschlossen werden, daß Lehnigk-Emdens Taten auch von der deutschen Militärjustiz verfolgt worden wären, hätte die nur davon erfahren. Damit aber setze die nach dem Kriege gültige Verjährungsfrist für Mord, zwanzig Jahre, schon vom Moment der Tat an ein. Lehnigk-Emden habe zwar eindeutig gemordet, die Morde seien aber bereits 1969 verjährt gewesen.
Für die entscheidende Frage, ob die Wehrmacht Lehnigk-Emden angeklagt hätte, waren im Verfahren nicht die beiden unabhängigen Gutachter ausschlaggebend, der Kölner Geschichtsprofessor Lutz Klinkhammer und der Historiker Gerhard Schreiber vom renommierten Militärgeschichtlichen Forschungsamt der Bundeswehr. Die Richter vertrauten vielmehr den Erinnerungen zweier ehemaliger Wehrmachtsoffiziere.
Schreiber, Experte für den Italienkrieg, hatte es für ausgeschlossen erklärt, daß Lehnigk-Emden von einem Kriegsgericht verurteilt worden wäre. Ein Befehl Hitlers vom 16. Dezember 1942 befahl nicht nur die Bekämpfung von Banden (d. h. Partisanen) „mit den allerbrutalsten Mitteln“ und „ohne Einschränkung auch gegen Frauen und Kinder“. Hitler verbot gleichzeitig ausdrücklich jede Strafverfolgung von Soldaten, die in dieser Weise gegen tatsächliche oder vermeintliche Partisanen vorgingen. Doch statt dem Historiker Schreiber folgte das Gericht in Koblenz zwei Offizieren, die um die Tatzeit zum gleichen Regiment gehörten wie Lehnigk-Emden und vesicherten, eine Anzeige hätte mit Sicherheit zu einem Prozeß gegen den Täter geführt.
Da beeindruckte es die Kammer auch nicht, daß der Gutachter Schreiber unter mehr als tausend erhaltenen deutschen Feldgerichtsurteilen aus Italien nicht eines fand, das einen Soldaten wegen der Tötung von Zivilisten verurteilte. Es sei „zu bemerken“, mäkelten die Koblenzer Richter, „daß der archivarische Bestand der Feldgerichtsurteile lückenhaft ist.“
Es gibt andere Passagen im Koblenzer Urteil, die heute, fünfzig Jahre nach Ende der Naziherrschaft, schaudern machen: Da ist distanzlos von „Gnadenschüssen“ die Rede, mit denen Lehnigk-Emdens Todeskommando die weiblichen Opfer umgebracht habe. Nur vergessene Anführungszeichen, ein Fehler des Schreibbüros? An anderer Stelle anerkennt das Urteil „die unter Umständen gerechtfertigte Tötung von Geiseln bzw. Sühne- oder Repressalgefangenen“ im Kriege.
Das italienische Gericht von Santa Maria Capua Vetere (Provinz Caserta) mochte Lehnigk- Emden von keiner seiner Taten entlasten. Es verurteilte ihn und seinen noch lebenden Mittäter Schuster im Oktober letzten Jahres wegen 22fachen Mordes zu „lebenslänglich“. Es ist anzunehmen, daß eine mögliche Bestätigung des Koblenzer Urteils heute in Karlsruhe einen Aufschrei der italienischen Öffentlichkeit provozieren wird. Die römische La Repubblica titelte schon vor einem Jahr, als das Koblenzer Verfahren eingestellt wurde: „Keiner ist schuldig am Massenmord von Caiazzo“.
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