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Die „Humanitaristen“ sind nicht mehr populär

In den USA wird über die künftige Außenpolitik gestritten / Republikaner fordern Abkehr vom „Globalismus“ / Desillusionierung nach Hoffnungen auf eine neue Ära des Multilateralismus / Der Fall Somalia  ■ Aus Washington Andrea Böhm

Sie haben Hochkonjunktur, die Herren aus vergangenen Zeiten. Kaum eine Woche vergeht derzeit in Washington, in der nicht ein Kissinger, ein Brzezinski, ein Haig oder Huntington zum Vortrag anheben, das neueste Essay veröffentlichen oder im Interview mal eben die globale Entwicklung ins nächste Jahrtausend projizieren. Daß ehemalige Außenminister oder Sicherheitsberater noch Jahre nach dem Ende ihrer politischen Karriere die Briefköpfe oder zumindest die Rednerlisten etablierter think-tanks zieren, ist in der politischen Kultur Washingtons nicht ungewöhnlich. Ungewöhnlich sind die Zeiten, die mit dem Ende des Kalten Krieges bekanntermaßen viel komplizierter geworden sind.

Seitdem befinden sich anerkannte und selbsternannte Experten in einem Wettrennen: Wer findet in dieser neuen Weltunordnung als erster das neue Paradigma, das neue Koordinatensystem, mit dem man im Weißen Haus und im State Department eine neue Doktrin schmieden kann? Wer also darf in die Fußstapfen von George F. Kennan treten, der 1947 unter dem Pseudonym X in der Zeitschrift Foreign Affairs den Aufsatz „The Sources of Soviet Conduct“ veröffentlichte? Kennans Essay trug maßgeblich dazu bei, die theoretische und ideologische Grundlage für die US-Politik des „containment“, der „Eindämmung“, des Kommunismus zu formulieren.

Europa und die USA

Zwischen eher banalen Ausführungen über die Komplexität internationaler Politik und pathetischen Prognosen über das Schicksal des Planeten im allgemeinen und der USA im besonderen finden sich ab und zu originelle Vorschläge – zum Beispiel die Idee Walter Russell Meads vom „World Policy Institute“, einem linksliberalen think-tank, wonach die USA Sibirien als 51. Bundesstaat einkaufen sollten. Damit wären zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Die Amerikaner hätten wieder Pionieraufgaben zu erledigen – und die Russen Geld in der Kasse.

Zbigniew Brzezinski, Sicherheitsberater in der Carter-Administration, zieht es vor, das Problem Rußland von der – geographisch betrachtet – anderen Seite anzugehen: In der jüngsten Ausgabe von Foreign Affairs entwirft er einen „Plan für Europa“, der – unter amerikanischer Führung – die politische Integration Ungarns, Polens, Tschechiens und der Slowakei in die Nato bis zum Jahr 2000 vorsieht, während sich die baltischen Staaten mit der Mitgliedschaft in der WEU begnügen sollen und ein Vertrag zwischen der Nato und der Russischen Föderation die Unabhängigkeit der Ukraine garantieren soll.

Andere mögen Brzezinski in der Frage der Nato-Ausdehnung vehement widersprechen, doch eines eint derzeit die Mehrheit der Autoren, die sich in den einschlägigen Publikationen zum Thema Außenpolitik äußern: Sie trauen Europa nicht allzuviel zu, halten die Führungsrolle der USA für unverzichtbar – und bezichtigen die Clinton-Administration, dieser Rolle nicht gerecht zu werden. „Die USA“, sagt Walter Russell Mead, „sind zum Globalismus verdammt“. Darin weiß er sich nicht nur mit Zbigniew Brzezinski, sondern auch mit vielen Linken in- und außerhalb der USA einig, die die Landung von US-Truppen in Haiti begrüßten oder eine militärische Intervention in Ruanda oder Bosnien forder(te)n.

Doch wer von den Konferenzräumen der think-tanks in die Gänge des Kapitols wechselt, hört andere Töne: Mitte Februar verabschiedete das US-Repräsentantenhaus eine Gesetzesvorlage, wonach das Pentagon in Zukunft die Kosten für Militäreinsätze, die vom UN-Sicherheitsrat abgesegnet wurden, vom jährlichen Beitrag für Peacekeeping-Missionen abziehen würde. Allein für das Jahr 1995 überschreiten diese Kosten den veranschlagten US-Zuschuß von einer Milliarde Dollar für Blauhelm-Einsätze.

Eine ähnliche Vorlage hat der Mehrheitsführer der Republikaner und Präsidentschaftskandidat für 1996, Robert Dole, im Senat eingebracht. Die USA, die bislang 31 Prozent der jährlichen Kosten für Peacekeeping übernehmen, würden damit vermutlich das Ende solcher Missionen besiegeln. Es sei höchste Zeit, so Dole, das Peacekeeping der UN zu zügeln. Im Repräsentantenhaus stieß Parteifreund Richard Armey ins gleiche Horn: „Die Nation ist viel zu weit in die Richtung des Globalismus abgedriftet. Wir beabsichtigen, das zu korrigieren.“

Nun wird auch mit einer republikanischen Mehrheit im Kongreß nichts so heiß gegessen, wie es gekocht wurde. Ob die Gesetzesvorlage im Senat durchkommt, ist fraglich. Für den Fall, daß auch im Senat eine Mehrheit für dieses Gesetz zustande kommen sollte, hat der Präsident der USA, Bill Clinton, sein Veto in Aussicht gestellt. Doch die Debatte ist symptomatisch für ein politisches Klima, in dem längst undenkbar geworden ist, was Mitglieder der Clinton-Administration bei deren Amtsantritt noch als wünschenswerte Zukunft anvisierten: Eine neue Ära des Multilateralismus, in der eine reformierte UNO nicht mehr Schachbrett für geostrategische Machtspiele von Supermächten ist, sondern Hauptakteur bei der Prävention oder Schlichtung von Konflikten – mit der Unterstützung einer kooperierenden und nicht oktroyierenden Supermacht USA. In seinem Wahlkampfprogramm versprach Clinton noch, die Schaffung einer UN–Eingreiftruppe voranzutreiben – ein Satz, der heute ungefähr so populär ist wie die Ankündigung, den Benzinpreis zu verdoppeln.

Tendenz zur Isolation

In diesem Klima mischen sich isolationistische Tendenzen mit der Forderung nach weniger Rücksichtnahme auf europäische Meinungen im westlichen Bündnis sowie Bestrebungen, die außenpolitischen Kompetenzen des Präsidenten durch den Kongreß zu beschneiden. Die Gesetzesentwürfe in beiden Kammern wollen die Bereitstellung amerikanischer Soldaten unter ein UNO-Kommando erschweren. Darüber hinaus sieht Bill Clinton einer massiven Machtprobe mit der Legislative entgegen, wenn demnächst über die einseitige Aufhebung des Waffenembargos gegen Bosnien abgestimmt werden soll.

Doch die gegenwärtige Debatte im Parlament entspricht eher jenem zeitlichen Abschnitt, den Walter Russell Mead als zweite Phase nach Ende des Kalten Krieges bezeichnet. Auf die Phase der Euphorie angesichts des Niedergangs des „Reichs des Bösen“, so erklärte Mead 1993 in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau, folge in den USA eine „Periode der Desillusion, in der man das Vertrauen in die guten Absichten seiner Verbündeten und den Glauben, die Welt nach den eigenen Prinzipien und Vorstellungen gestalten zu können, verliert“.

Der Fall Somalia spielt bei dieser Desillusionierung in der amerikanischen Debatte eine weitaus größere Rolle, als die Frustration über das Scheitern internationaler Konfliktlösungsmechanismen in Bosnien. Trotz der nachweislich eklatanten Fehler der Bush- und Clinton-Administrationen ist Bosnien ein tragisches Beispiel der Unfähigkeit Europas, auf kriegerische Konflikte und extremste Menschenrechtsverletzungen zu reagieren. Somalia hingegen sollte als Ausgangspunkt für die neue Rolle der USA als gütiger Weltpolizist dienen. Heute gilt es als Beweis für die Undurchführbarkeit humanitärer Interventionen, und die Bilder der in Mogadischu getöteten US-Soldaten werden als warnendes Beispiel dafür genommen, was passiert, wenn man „US- Boys“ dem chaotischen Kommando der UNO unterstellt. Längst vergessen und verdrängt sind erstens die somalischen Zivilisten, die bei den Auseinandersetzungen zwischen US-Soldaten und Anhängern des Milizenführers Mohammed Aideed im Herbst 1993 getötet wurden, und zweitens der Umstand, daß die USA ganz maßgeblich daran beteiligt waren, aus einer humanitären Intervention eine Verfolgungsjagd auf Aideed zu machen. Die Folgen dieser „Desillusionierung“ wurden ein Jahr später sichtbar, als nicht zuletzt der massive Widerstand Washingtons eine Intervention der UNO in Ruanda verhinderte.

Die Clinton-Doktrin

Doch allem Chaos und aller Unberechenbarkeit der Clinton-Administration auf dem Gebiet der Sicherheits- und Militärpolitik zum Trotz – es gibt so etwas wie eine Clinton-Doktrin. Nur findet man sie nicht im US-Außenministerium, sondern im Finanz- und Handelsministerium. Nachdem die innenpolitische Opposition mit dem Dogma der Defizitbekämpfung schon im Wahlkampf 1992 sämtliche Pläne Clintons für staatlich finanzierte Wachstums- und Investitionsprogramme zur Makulatur gemacht hatte, gilt die Erschließung neuer Exportmärkte als Allheilmittel für das Wachstum der US-Wirtschaft.

Mit diesem Argument focht der Präsident für die Ratifizierung der Freihandelsabkommen Nafta und Gatt; mit diesem Argument drängte im letzten Frühjahr der damalige Finanzminister Lloyd Bentsen erfolgreich auf eine Entflechtung von Handelsbeziehungen und Menschenrechtspolitik im Fall Chinas; mit diesem Argument konnte Clinton letztes Jahr selbst Hardliner im US-Kongreß auf seine Seite bringen, das Handelsembargo gegen Vietnam aufzuheben; mit diesem Argument begründete der Präsident das jüngste finanzpolitische Rettungsmanöver der USA zur Stützung der mexikanischen Währung.

Und just hinter diesem vermeintlichen Bravourstück könnte sich eines der großen außenpolitischen Debakel der Clinton-Administration verbergen: Ebenso wie sein republikanischer Vorgänger George Bush hat Bill Clinton den Nachbarn im Süden zum Musterknaben im Lehrgang „Marktwirtschaft und Demokratie“ stilisiert, anhaltende Menschenrechtsverletzungen, Korruption, Verarmung und soziale Spannungen jedoch ebenso ignoriert wie die Risiken einer künstlich hochgehaltenen Währung. Operation „Rettet den Peso“ könnte sich für die Clinton- Administration als Faß ohne Boden erweisen. Die Zustimmung des US-Kongresses zum Nafta- Beitritt weiterer lateinamerikanischer Länder, allen voran Chile, dürfte bis auf weiteres unwahrscheinlich sein.

Die US-Politik im Fall Mexiko symbolisiert ebenso wie im Fall China darüber hinaus, wie die Fraktion der „Humanitaristen“ und die Lobby der Menschenrechtsorganisationen ins Hintertreffen geraten sind. Im Fall China wurden sie, allen voran der im US- Außenministerium für Menschenrechtsfragen zuständige John Shattuck, in die hinteren Reihen verwiesen. Im Fall Mexiko durfte Shattuck bei einer Kongreßanhörung zwar über eklatante Menschenrechtsverletzungen berichten, behauptete dann aber, daß der Beitritt zur Nafta garantiert zu einer Verbesserung der Situation führen werde.

Fehlende Information oder fehlendes Interesse für die Situation der Menschenrechte unterstelle sie der Clinton-Administration nicht, konstatierte Holly Burkhalter, Direktorin des Washingtoner Büros der Menschenrechtsorganisation „Human Rights Watch“, im letzten Jahr in einem Zwischenresümee. „Die Regierung weiß schon, was zu tun ist – aber sie tut es nicht, wenn sie meint, daß es andere Interessen beeinträchtigt.“

Damals konnte Burkhalter noch nicht ahnen, daß die Clinton- Administration ein Jahr später mit eben diesem Kalkül einem neuen Blutbad tatenlos zusehen würde: Um das Primat der „Russia First“- Politik nicht zu opfern und den russischen Präsidenten Boris Jelzin nicht kritisieren zu müssen, erklärte man die Bombenangriffe russischer Truppen auf Zivilisten in Tschetschenien kurzerhand zur „internen Angelegenheit“ Moskaus. Nachdem Grosny in Schutt und Asche gelegt wurde, könnte Bill Clinton bald vor den Scherben seiner Rußland-Politik stehen.

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