: Litauens Problem mit der Befreiung
Eine Debatte über Kollaboration, Kriegsende, Okkupation und Kommunismus / Für die Mehrheit war die sowjetische Besatzung schlimmer, für die Minderheiten die deutsche ■ Von Klaus Bachmann
Warschau/Vilnius (taz) – Als sich vor fünfzig Jahren die deutsche Wehrmacht in Memel, dem heutigen Klajpeda, verschanzte und den Angriff der Roten Armee auf den strategisch wichtigen Hafen und U-Bootstützpunkt erwartete, da hielt sie die Stadt nicht besetzt, sondern „verteidigte“ sie. Daß bei dieser Verteidigung kaum ein Stein auf dem anderen blieb, spielt für den litauischen Historiker Piatras Stankeras keine Rolle. „Seit dem Sommer 1944 war die Rote Armee zur Annexion übergegangen, denn sie hatte keine ethnisch russischen Territorien mehr zu befreien“, schrieb er in der liberalen litauischen Tageszeitung Letuvos Rytas. „Kaum jemand in Litauen freute sich über den Einzug der Roten Armee, viele Litauer dagegen flohen mit den deutschen Truppen.“ Es habe da zwar die 16. Litauische Division gegeben, die auf sowjetischer Seite um Klajpeda gekämpft habe, doch diese Litauer seien „für die Ausweitung des stalinistischen Regimes, das auch nicht besser als das deutsche war“, gestorben.
Stankeras ist kein Rechtsradikaler und nicht einmal litauischer Nationalist. Gerade die Ende Februar abgehaltenen Feiern zur Befreiung Memels haben gezeigt, daß solche Ansichten über das Ende des Zweiten Weltkrieges in der baltischen Republik dominieren. Am 28. Februar hatte der sozialistische Parlamentspräsident Czeslaw Jursenas in der Stadt am Denkmal für die Befreier feierlich einen Kranz im Namen von Regierung und Parlament niedergelegt. Oppositionelle Abgeordnete aus Klajpeda hatten ihn daraufhin heftig angegriffen: 1945 habe nicht die Befreiung, sondern „der Genozid an den Litauern“ begonnen. Darunter versteht man in Litauen die Deportationen, Hinrichtungen und Verfolgungen litauischer Antikommunisten durch die sowjetischen Behörden, denen litauischen Historikern zufolge über 300.000 Menschen zum Opfer fielen. Ähnliche Verfolgungen von ethnischen Litauern hatte es unter deutscher Besatzung nicht gegeben – im Gegenteil: bei der Niederhaltung der polnischen und kommunistischen Partisanen und der Ermordung der Juden hatten Tausende litauische Freiwillige mit der SS kollaboriert; eine Tatsache, für die sich Präsident Brazauskas bei seinem jüngsten Israel-Besuch dreimal entschuldigte.
Die litauischen Probleme mit der eigenen Vergangenheit hängen vor allem damit zusammen, daß die meisten Litauer Hitlers Überfall auf die Sowjetunion zunächst als Befreiung von der sowjetischen Besatzung gefeiert hatten. Als die Wehrmacht in Litauen einfiel, hatte das Land fast zwei Jahre sowjetische Besatzung hinter sich. In spontanen Volksaufständen jagten sie zusammen mit der Wehrmacht die Rote Armee aus dem Land. Dieser „Juniaufstand“ gilt bis heute als nationale Großtat. Daß dabei auch einige tausend Juden in Pogromen ihr Leben lassen mußten, wird gern verschwiegen.
Weil er daran erinnert, macht sich der litauische Publizist und Literat Tomasz Venclova unbeliebt: „Die Gesellschaft mochte die Faschisten zwar nicht, zog sie aber den Kommunisten vor. Heute ist es in Litauen immer noch ähnlich – das gilt als so selbstverständlich, daß kaum jemand überhaupt darüber diskutiert. Es gibt da das Argument: Die Kommunisten haben Litauer umgebracht, die Nazis nur Juden“, schrieb Venclova in einem vielbeachteten Artikel. „Aber diese Art nationaler Egoismus ist zutiefst unmoralisch.“
Doch mit dieser Ansicht ist Venclova, der in Yale eine Professur hat und nur von Zeit zu Zeit nach Vilnius kommt, ziemlich allein. Das zeigen auch die zahlreichen Leserbriefe an Letuvos Rytas, nachdem Staatspräsident Brazauskas vorgeschlagen hatte, in diesem Jahr die „Befreiung Litauens“ zu feiern. Die meisten Schreiber waren dagegen, und jene Veteranen, die in der Roten Armee oder als kommunistische Partisanen gegen die deutsche Besatzung gekämpft hatten, verteidigten sich lediglich damit, sie seien damals apolitisch und naiv gewesen. Daß nach 1945 in Litauen eine für die Litauer schlimmere Okkupation begann, stellen sie nicht in Frage. Erst der sozialdemokratische Abgeordnete Vytautas Pleckaitis wies auf die Kehrseite dieser Medaille hin: „Die deutsche Besatzung war für die litauischen Polen, Zigeuner und Juden schlimmer. 180.000 litauische Juden, 94 Prozent der jüdischen Vorkriegsbevölkerung, wurden dabei ermordet. 1945 hat uns in Litauen zwar weder Freiheit noch Demokratie gebracht, dafür aber Frieden.“ Pleckaitis schlug vor, statt einer Befreiung oder neuen Besatzung einfach der Opfer von vor 50 Jahren zu gedenken, unabhängig davon, auf welcher Seite sie fielen.
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