piwik no script img

Die Käfigmenschen von Hongkong

In der britischen Kolonie wohnen Tausende alter und armer Menschen in „cagehomes“, vergitterten Stockbetten, die in langen Reihen bis unter die Decke alter Mietshäuser gestapelt sind  ■ Aus Hongkong Florian Hanig

An der Decke dreht sich ein verrosteter Ventilator, doch in den engen Gassen zwischen den dreistöckigen Betten steht die heiße Luft. 33 Grad zeigt das Thermometer. Frau Leung sitzt aufrecht in ihrem Eisenkäfig und fächert sich mit einem Bambuswedel Luft zu. Ihr Gesicht sehe ich im Halbdunkel nur, wenn sie sich vorlehnt und lächelt, weiße Zähne und schimmernde Augen hinter dem Gitter.

Nein, sagt Frau Leung, daß es Hongkong heute so gut gehe und ihr so schlecht, das ärgere sie nicht. Sie erinnert sich an die Namen der Luxus-Appartements und glitzernden Einkaufspaläste, die sie bauen half. Mit 56 Jahren schleppte sie noch Ziegelsteine in Bambuskörben 20 oder 30 Stockwerke hoch. Heute sitzt die 80jährige im untersten von drei Stockwerken, die an allen Seiten mit Gittern verschlossen sind. 1,6 Quadratmeter groß ist die Dachkoje und nur 90 Zentimeter hoch, eine Bastmatte liegt auf dem Bodenbrett, an der Seite spannen sich Wäscheleinen, und auf dem kleinen Bord über dem Kopfkissen stehen Medikamentendosen und ein vergilbtes Hochzeitsfoto: Ein junger Mann in Uniform hält eine zierliche Chinesin im hautengen, hochgeschlitzten Seidenkleid im Arm.

Das war vor dem Bürgerkrieg 1945, vor der Enteignung der Fabrik und vor dem Tod ihres Mannes in einem Gefängnis der Kommunisten. Danach hat niemand mehr den zerbrechlichen Körper gehalten. „Wir haben Bananenschalen gegessen und die schlechten Teile des Gemüses“, erinnert sie sich. So überlebte sie mit ihrer jungen Tochter drei Jahre Kriegswirren und Hungersnot. Schließlich gelang ihr die Flucht in die britische Kolonie Hongkong, wo sie Arbeit in einem Zeitungskiosk fand. Der Lohn für den Zwölfstundentag betrug 60 Pfennig. „Hongkong“, sagt Leung, „war gut zu uns. Hier konnten wir Reis essen.“

Rebecca Lai ist nicht so sanftmütig wie Frau Leung. Die junge Sozialarbeiterin in Jeans und Turnschuhen betreut Hunderte „cagepeople“, wie die Käfigbewohner in Hongkong genannt werden, und sie schimpft wie ein Rohrspatz auf die Regierung. „Es ist eine Schande“, sagt sie, „wie das zehntreichste Land der Welt seine Alten behandelt.“

Im Steuerparadies Hongkong fahren die meisten Rolls Royce der Welt (einer pro 11.000 Einwohner), aber es gibt keine staatliche Rentenversicherung. Die Kolonie hält den Rekord im Pro-Kopf- Konsum von XO-Cognac (250 Mark pro Flasche), die Sozialhilfe dagegen beträgt nur 350 Mark. „Das ist zuviel zum Sterben und zuwenig zum Leben“, sagt Rebecca, denn ein 40-Quadratmeter- Studio-Appartement kostet auf dem freien Markt mindestens 2.000 Mark Miete pro Monat. Hongkong hat Tokio als teuerste Stadt der Welt überholt.

Die Regierung zählt 3.200 alte Stadtbewohner, die sich nur „bedspace apartments“ leisten können, vergitterte Käfige, die in langen Reihen bis unter die Decke alter Mietshäuser gestapelt werden. 145 solcher Heime gibt es noch, sagt Camelia Lee vom Informationsdienst der Regierung, die meisten in den alten Stadtbezirken Tsim Sha Tsui, Mongkok und Tai Kok Tsui, nur einem Steinwurf von den Einkaufsstraßen entfernt, durch die sich die Touristen schieben. Die Miete für einen Käfig beträgt im Durchschnitt 100 Mark.

SoCo, die „Society for Community Organization“, für die Rebecca arbeitet, kommt auf andere Zahlen. Mindestens 50.000 Alleinstehende, sagen sie, bewohnen die Stockbetten, winzige Boxen aus Alufolie oder Käfigen. „25 Milliarden Mark wirft die Regierung raus, um den neuen Flughafen zu bauen“, kritisiert Rebecca. „Aber die Menschen, die mit ihrer billigen Arbeit das Wirtschaftswunder ermöglichten, die läßt man jetzt verrotten.“

Am nächsten Tag steigt die Luftfeuchtigkeit auf 95 Prozent. Der Dunst verbindet sich mit den Abgasen zu einem Schleimfilm, der Haut, Resopal und Metall überzieht. Schon im Treppenflur hören wir heiseres Husten aus dem Fuk-Tusem-Street-Cagehome. Im Mülleimer draußen liegt eine tote Ratte. Innen bricht sich die Mittagssonne in dem Drahtgewirr der Käfige, sie brennt Gitter-Karos auf den PVC-Boden und wird gleißend von den Plastiktüten in den Kojen reflektiert, aus denen die Wäsche der Bewohner quillt. Fünf hagere Männer, nur in Unterhosen, kauern im Licht vor dem Schwarzweißfernseher, in dem japanische Zeichentrickfilme laufen und schlürfen Nudelsuppe aus kleinen Schalen.

Herr Sin döst mit angezogenen Beinen auf dem Hocker vor einem kleinen Sekretär, neben ihm der grellbunte Glücksgott Kwan Ti, darüber hängt eine Kreidetafel mit Käfignummern und den Namen der Bewohner. Nur noch 68 sind es jetzt, sagt Sin. Als er vor zehn Jahren hier als Hausmeister angefangen hatte, teilten sich 104 von ihnen die 90 Quadratmeter. Das Haus wurde 1954 gebaut. Aus dieser Zeit stammen auch die Poster an den Wänden, die handkolorierte Mädchen lachend vor Hongkongs emporstrebender Skyline zeigen.

Die Bewohnerinnen des Frauen-Käfigheims sind alle verwitwet oder alleinstehend. Die meisten Käfigmänner dagegen haben Familie, doch die Frauen und Kinder leben auf dem chinesischen Festland. Sie sehen sie nur während des chinesischen Neujahrsfestes, und das auch nicht alle Jahre, erzählt Rebecca. In der Zwischenzeit senden die Männer Monat für Monat Geld über die Grenzen. „Käfigmenschen sind arm in Hongkong, aber reich in China“, sagt Sin. Er liest den Männern die Briefe vor, die ihre Frauen einem Schreiber im Heimatdorf diktiert haben, und er schreibt die Adressen auf die Umschläge mit Geld, die sie zurückschicken.

Eine Handvoll Dollar von der Sozialhilfe oder dem Lohn als Kuli abgezwackt, ernähren jenseits der Grenze zwei oder drei Menschen. Die meisten Männer waren vor 1949 nach Hongkong gekommen, bevor der Bambusvorhang sich senkte und ihren Frauen den Weg in die kapitalistische Kronkolonie versperrte.

Mister Sin weiß nicht, ob er noch Verwandte hat. Er war Soldat der nationalchinesischen Armee und wurde während des Rückzuges nach Taiwan verwundet. Stolz zeigt er die Einschußnarbe am Hals. Als er das Hemd aufknöpft, sieht man seinen Herzschrittmacher, eine nierenförmige scharfe Beule unter der gespannten Lederhaut. Nachdem die Wunde verheilt war, sagt Sin, habe er jeden Tag seines Lebens gearbeitet, erst auf den Großbaustellen, als er dazu die Kraft nicht mehr hatte, goß er zehn Jahre lang Plastikgehäuse für Transistorradios. Doch die Produktion wurde nach Südchina verlagert, und ihm blieb nur, als Kuli die Abfälle einzusammeln.

Das „cagehome“, in dem er 31 Jahre gewohnt hatte, machte einem Einkaufszentrum Platz, und Sin nahm eine Stelle als Hausmeister an, zog in seinen zweiten Käfig. Der Vermieter stammt aus demselben Dorf wie er und vertraut ihm das Kassieren der Miete und die Buchführung an. Sin spricht von ihm nur als „reichen Mann“ – er sagt es ganz ohne Neid. Mehr als umgerechnet 6.000 Mark Miete streicht der „Landlord“ für die heruntergekommenen 90 Quadratmeter ein.

Jeder Mensch braucht Familie, und deshalb fand Sin im Käfig neben ihm einen Sohn, den damals 60jährigen Hui. „Hui Kam war wie ein kleines Kind“, beschreibt ihn Sin; geistig auf dem Stand eines Zehnjährigen, fügt Rebecca in der Übersetzung hinzu. Sin hat auf ihn aufgepaßt, für ihn gekocht und zusammen mit Rebecca seine Sozialhilfeanträge ausgefüllt. Er suchte ihn auf den Straßen, wenn Hui die Orientierung verloren hatte, und machte ihm Mut, wenn sich Hui vor den Sticheleien der anderen in eine Ecke verkroch.

Gegen die schwere Luft, von Dutzenden ein- und ausgeatmet, bevor sie Huis Käfig erreichte, und die Asthma-Anfälle konnte er nichts machen. Im vergangenen September starb Hui mit 73 Jahren. Sin fährt jedes Wochenende zum Friedhof an die Stadtgrenze, um Räucherstäbchen vor der Urne abzubrennen.

Die Hongkonger Regierung steht dem Schicksal der „cagepeople“ nicht gleichgültig gegenüber, verteidigt Pressesprecherin Camelia Lee ihren Arbeitgeber. Und führt als Beispiel das „Gesetz über bettgroße Appartements“ an: Am Weihnachtsabend 1990 war in einem der Käfigheime in Mongkok ein Feuer ausgebrochen: Sechs Menschen verbrannten, 50 mußten mit Rauchvergiftung ins Krankenhaus. Danach verordnete die Verwaltung, daß die Bettgassen zwischen Gitter und Gitter mindestens 90 Zentimeter breit sein müßten. Davor, erinnert sich Frau Leung, mußten sie sich seitlich durch die Gänge schieben.

Seit 1985 können sich Alleinstehende auch für das öffentliche Wohnungsbauprogramm bewerben, das drei Millionen Hongkonger, mehr als die Hälfte der Bevölkerung, mit billigen Appartements versorgt. Vorher stand das nur Familien offen. Die meisten Käfigmenschen haben sich trotzdem nicht auf den langen Wartelisten eintragen lassen. Die Regierung habe erkennen lassen, sagt Rebecca, daß nur die über 65jährigen eine Chance hätten, die gesundheitlich schon angeschlagen sind. „Die warten darauf, daß die Menschen wegsterben und sich das Problem von selber löst.“

Frau Leung erfüllt das Alters- und Gebrechlichkeitskriterium. „Doch alte Wurzeln“, sagt sie, „finden keinen Halt in neuen Böden.“ Sie lebt seit 41 Jahren in Tai Kok Sui und seit 41 Jahren in einem Drahtbett.

Kochen kann sie nicht mehr, das machen jetzt die anderen Frauen für sie. Wenn sie krank ist, und leider, so sagt sie, sei das jetzt fast immer, dann holen die Käfignachbarinnen ihre Medizin.

Die neuen Wohnungen, die die Regierung zum Umsiedeln anbietet, liegen in den New Towns, grauen Schlafstädten aus 30stöckigen Hochhäusern im Hinterland der Kolonie – über eine Stunde mit Bus oder Bahn von den alten Stadtteilen Hongkongs entfernt. Es gibt dort keine offenen Gemüsemärkte, sondern riesige Supermärkte, keine Parks, in denen abends kantonesische Opern aufgeführt werden, sondern Spielplätze aus Beton, auf denen nie ein Kind zu sehen ist. „Wenn ich dort sterbe“, sagt Frau Leung, „wird es wochenlang niemand merken.“

Dort wird ihr auch niemand zuhören, und Frau Leung liebt es, zu erzählen. Es gibt ihr das Gefühl, etwas wert zu sein, besonders wenn junge Leute um sie herum sitzen. Mit hoher, klarer Stimme singt sie die Auf- und Absilben des tonalen Kantonesisch und spricht von dem fest verschnürten Kind, das sie auf der Baustelle zwischen zwei Lasten in den Schlaf wiegte, und dem kleinen Stück Gold, das sie aus ihrem Besitz retten konnte. In Hongkong kaufte sie dafür einen Kerosinkocher, zwei paar Stäbchen und Eßschalen für sich und ihre Tochter. Der Kocher sei inzwischen kaputt, die Tochter tot, aber aus den Schalen und mit den Stäbchen esse sie heute noch, sagt sie – und lächelt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen