„An alle! Alles tot! Kernschmelze!“

Schrottreaktoren brummen in Osteuropa. Es gibt kein Geld für die Sanierung, keines für die Abschaltung. Den Ingenieuren bleibt nur eins: Am Simulator in Greifswald üben sie, das Unbeherrschbare zu beherrschen — den GAU  ■ Von Michaela Schießl

Plötzlich werden die 40 Quadratmeter Wand wild. Und grell bunt. Diagramme flattern über die Monitore, Sirenen hupen Stakkato, Zahlenreihen sausen über die Bildschirme. Hart lehnt sich Kraftwerksingenieur Nikolai Ponomarenko in seinem Stuhl zurück. Seine Befehle kommen kurz und knapp: „An alle: Kontrolliert die Temperatur! Versorgung der Sicherheitssysteme gewährleisten! Igor, die Koordinaten! Sergej, was ist bei euch los?“

„Druck Null“, ruft Sergej Ogrebtschuk. Ein Blick auf die Leuchttafel zeigt ihm, warum der Reaktor heißläuft. „Großes Leck am Hauptdampfsammler!“ „Leck präziser eingrenzen“, befiehlt Ponomarenko. Und spricht aus, was alle gemerkt haben sollten: „Ähnlich wie in Harrisburg.“

Nur Igor Samborskij ist verwirrt. Es ist sein erster GAU. Unschlüssig steht er vor dem Schaltpult und kratzt sich den Bart. Das Ungetüm aus Knöpfen und Schaltern wurde in der DDR hergestellt, vom VEB Landmaschinen. Doch die Beschriftung ist russisch. Viktor Basajev, Schichtleiter erster Kreislauf und alter Hase im Reaktorgeschäft, schiebt Igor zur Seite. Vorsichtig dreht er einen Knopf und meldet: „Aufborierung 1. Kreislauf“. Boriertes Wasser, ein Neutronenkiller, fließt in den kritischen Bereich des Reaktors, auf daß der Kern nicht schmelze. „Sonst würde er sich durch die Erde fressen“, erklärt Basajev.

Ganz cool kann er nun sein, denn längst ist die ukrainische Crew aus Rowna auf der sicheren Seite. Der Reaktor hat sich automatisch ausgeschaltet, die Sicherheitssysteme funktionierten tadellos. Das zumindest behauptet der Computer. Und der hat das Sagen im Simulationszentrum Greifswald: 25 altertümliche Robotron-8-Bit-Computer, die, auf eine Ebene geschaltet, so tun, als seinen sie ein russischer Atomreaktor.

Einer, der nicht sehr beliebt ist im vereinten Deutschland: Der Typ W 213, bekannt geworden als „Schrottreaktor von Greifswald“. Atomkraftwerke, die nach wie vor in Rußland, der Ukraine, Bulgarien, Tschechien, Ungarn und Finnland betrieben werden. „Die Russen und Ukrainer haben keinen Simulator, um den Umgang mit dem Reaktor zu üben. Wenn wir hier zumachen, fallen die wieder in ein Loch“, sagt Bernd Müller, Geschäftsführer des Consulting und Ausbildungszentrum Greifswald (CAG). Mit seinem Partner Alexander Lentes, einem Betriebswirt aus dem Westen, hat er das Simulationszentrum im Juli 1993 von der Treuhand gekauft.

Es war gerade fertig geworden, als Ende 1990 das AKW Greifswald stillgelegt wurde. In letzter Minute konnte Müller den Abriß verhindern. „Ich hab Umweltminister Töpfer klargemacht, wie wichtig der Simulator für Osteuropa ist. Das hat zum Glück geklappt, nach Tschernobyl sind sogar Politiker einsichtiger geworden.“ Seit 1992 zahlt das Bundesumweltamt jährlich 1,5 Millionen Mark, hinzu kommt eine Million von der EU.

Bernd Müller weiß von der Notwendigkeit des Übens. Der Kraftwerksingenieur war von 1972 an atomarer Aufbauhelfer im AKW Greifswald und zuständig für nukleare Sicherheit. Bis heute wurmt ihn die Totalstillegung im Dezember 1990. „Eine politische Entscheidung war das“, hadert er, „die westlichen Energiekonzerne wollten keine billige Konkurrenz.“

Was man glatt glauben könnte, wenn da das Sicherheitsgutachten nicht wäre, das Atomwissenschaftler 1990 im Auftrag des runden Tisches erstellt hatten. Das Ergebnis: eklatante Mängel an den Sicherheitssystemen, spröde Druckbehälter, schlimme Schlampereien der Betriebsmannschaft. Die Experten fanden Unterlagen von 1986 und 1989, in denen die DDR- Kontrollbehörden die Greifswalder Unbekümmertheit beklagten. Immer wieder seien die „Bedingungen des sicheren Betriebs“ nicht eingehalten worden. Fazit der Studie: „Aus den (...) Berichten läßt sich eindeutig der Schluß ziehen, daß die Betriebsmannschaft des Kernkraftwerks Greifswald, Block 1 bis 4, durch ihr beschriebenes Verhalten ebenfalls besonders zum Risiko beiträgt.“

Davon spricht der CAG-Ausbilder Peter Reibert nicht. „Wir fuhren 13 Jahre lang ohne Probleme“, erinnert sich der Greifswalder Kraftwerksingenieur, “nur einmal brannte der Maschinenraum.“

So ganz nebenbei kommt dieser Satz daher. Dabei hatte dieser Brand 1976 um ein Haar zum GAU geführt. Ein Kabelnetz brannte, der Strom, der die Kühlpumpen antrieb, fiel aus. Nur zufällig hing eine Pumpe am anderen Netz und konnte den Reaktor notkühlen. Ein beteiligter Ingenieur berichtete: „Im Kontrollraum waren alle wichtigen Anzeigen tot.“ Stundenlang habe man gewartet: „Kommt es zur Kernschmelze, ja oder nein?“

Peter Reibert räumt ein, daß dieser Reaktortyp hochkompliziert ist. „Wer den fahren kann, der lernt in vier Wochen, mit einem West-Reaktor umzugehen. Aber unser Typ ist wesentlich träger und gutmütiger, längst nicht so aggressiv wie etwa ein schneller Brüter.“ Liebevoll läßt er den Blick durch den Kontrollraum wandern, wo die sieben ukrainischen Ingenieure nun zusammensitzen und die jüngste Aktion nachbereiten.

Schönreden oder glattes Ableugnen ist zwecklos. Alles ist auf Video gebannt, jede Manipulation auf Diskette gespeichert und nachvollziehbar. „Für uns ist es ein Segen, hier zu üben“, sagt Blockleiter Andrej Lukjanenko. „Oft sieht man Fehler erst auf dem Video.“ Am Anfang zum Beispiel, da ist er immer zu den anderen nach vorne gerannt, wenn es brenzlig wurde. „Und schon hatte niemand die hinteren Anzeigen im Blick.“

Systemschulung und Rollenspiele sind das Kernstück der Fortbildung: Teamarbeit statt Experten-Stückwerk. Jeder hat seine Stellung zu halten. 14 Tage lang kann sich die Crew jedes Jahr in Greifswald einspielen, ohne von den Alltagssorgen abgelenkt zu werden. „Das ist das wesentliche“, glaubt Reibert. Und berichtet von seiner Rußlandreise: „Man macht sich keine Vorstellung, was da los ist. Früher war ein Reaktoringenieur mit 200 Mark im Monat ein angesehener Mann. Heute verdient jeder Straßenhändler das Doppelte. Klar, daß die Männer mehr daran denken, wie sie das Essen auf den Tisch bringen.“

Zur miesen Motivation gesellt sich der schlechte technische Zustand der Anlagen. Kein Geld für Ersatzteile, keine Mittel, um den Reaktor in Schuß zu halten. Und keinerlei Hilfe von denjenigen, die lautstark die Zustände beklagen: „Das Gezeter des Westens ist pure Heuchelei“, schimpft Geschäftsführer Alexander Lentes. Er hat in Tschernobyl den Delegations-Tourismus am eigenen Leib erfahren. „Alle echauffierten sich ungeheuerlich, als ein Ingenier auf den Sarkophag des undichten Unglücksreaktors kletterte, um die Radioaktivitätswerte abzulesen. Aber Meßgeräte spendiert keiner.“ Auch die 600 bis 700 Millionen Mark, die die Abschaltung der drei aktiven, gemeingefährlichen Reaktoren in Tschernobyl kostet, will niemand aufbringen. „In Wahrheit wollen sich die Westler nicht mit den Problemen der osteuropäischen Länder kontaminieren“, urteilt Lentes. Statt dessen wird tonnenweise Papier geliefert, wo draufsteht, wie alles sein soll.

Die sieben Ukrainer haben ihre Diskussion beendet. Sie sind zufrieden mit sich, alles hat geklappt wie vorgesehen. Zehn Minuten Pause, dann wollen sie noch mal eine Standardsituation proben. Doch erst einmal raus aus dem fensterlosen, künstlichen Raum, in dem der Teppich jeden Schritt samten schluckt, und raus auf den Gang, erst mal eine rauchen.

Für einen Moment fällt die Spannung ab von den Männern. Ungeheuer hoch ist die Konzentration, die sie 14 Übungstage lang aufbringen müssen. „Bei Normalbetrieb schläft man fast ein vor dem Reaktor, so langweilig ist das. Spannend wird es nur bei den Übergangsvorgängen, etwa, wenn der Reaktor hoch- oder runtergefahren wird.“

Dann nämlich kommt der Mensch zum Zuge – und ebendort liegt das Problem. Denn wer handelt, macht Fehler.

Statistiken zeigen, daß 90 Prozent aller Menschen in der ersten halben Stunde einer Krisensituation alles falsch machen. Aus diesem Grund blockieren moderne Reaktoren bei einer Unregelmäßigkeit 30 Minuten lang. Der russische Reaktor W213 tut das nicht. Was weniger technologische als ideologische Gründe hat: Die russische Philosophie geht davon aus, daß der Mensch über die Maschine triumphiert. Was die falsch macht, soll vom Menschen erkannt und verbessert werden.

Der technikgläubige Westen dagegen hält die Maschine für weniger störanfällig als diejenigen, die sie bedienen. Eine zweiwöchige Fortbildung am Simulator gehört hier zum Jahresprogramm eines jeden Kraftwerkingenierurs. „Beide großen Havarien, Tschernobyl und Harrisburg, sind durch menschliches Versagen entstanden. In Tschernobyl haben die Techniker irrsinnigerweise sechs Sicherheitssysteme außer Kraft gesetzt“, erzählt Reibert.

Doch der Unfall von Tschernobyl hat das Verständns der Ingenieure grundlegend verändert. „Auch wir in Greifswald dachten immer, wir bedienen Maschinen. Erst nach Tschernobyl haben wir schlagartig kapiert, daß wir es mit Reaktoren zu tun haben.“

Mit etwas ungeheuer Mächtigem also, mit wahren Teufeln von Maschinen, die zu beherrschen eine Kunst ist. Nein, wirklich angst mache ihnen das Üben am Ernstfall-Gameboy nicht, sagen die Ukrainer. Obwohl sich Reibert immer wieder heimtückische Fälle ausdenkt. Da werden Fehler hinter Fehlern versteckt, scheinbar ungefährliche Abweichungen mit schlimmen Folgen konstruiert, Parameter verändert. „Sie müssen lernen, aus ihren alltäglichen Denkstrukturen herauszukommen, das Hirn frei zu kriegen für Fälle, die ihnen unbekannt sind.“

Ruhig und konzentriert wird dieses Lernziel verfolgt. Nur manchmal bekommen die Ingenieure feuchte Achseln. Etwa, wenn ein Fall auftritt, den man nie im Leben für möglich gehalten hätte. Dann schreien sie schon mal aufgeregt durcheinander, rätseln und probieren. Und vergessen für einen Moment, das dies nur ein gigantisches Computerspiel ist, nicht das echte, tödliche.

Nach der Zigarette üben die Ingenieure noch eine Stunde, dann reicht das Katastrophentraining für heute. Der Kontrollraum leert sich. Ein Ausbilder läßt noch einmal die Alarmsirenen probeheulen. „Ein infernalischer Krach ist das“, lacht er. Lärm, der ihm noch wohlbekannt ist, von damals, als er noch im AKW Greifswald gearbeitet hat. „Das war noch viel lauter, richtig ohrenbetäubend. Da haben wir halt immer Lappen reingesteckt, dann war Ruhe.“