: Alte Knochen Von Mathias Bröckers
In den 80er Jahren wurde die Polizei von Washington DC einmal zu einem Friedhof gerufen. Als die Polizisten dort ankamen, fanden sie eine Gruppe von Männern, die emsig damit beschäftigt war, ein Grab auszuheben. Einer der Männer stand dabei und machte Notizen, ein weiterer fotografierte die Szenerie. Als sie von den Polizisten zur Rede gestellt wurden, gaben die Männer an, Anthropologen der Inuits aus der Arktis zu sein. „Eure Anthropologen kommen häufig in unser Land und untersuchen unsere Beerdigungsstätten“, erklärten sie, „wir untersuchen nun in demselben Geist eure Kultur und Gebräuche.“
Die Anekdote bringt auf den Punkt, in welchem Stil Anthropologen mit fremden Kulturen umspringen: wie Elefanten mit Porzellanläden. Ein wenig anders liegt der Fall allerdings bei einer aktuellen Auseinandersetzung in Israel, wo ultraorthodoxe Juden mit archäologischen Forschern aneinandergeraten sind. Im letzten Sommer kam es an einigen Grabungsstätten zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Die Denkmalbehörden, die die Ausgrabungen an den prähistorischen Stätten der Frühsteinzeit und Bronzezeit leiteten, forderten Polizeischutz an; die religiösen Extremisten klagten auf Einhaltung des bestehenden Gesetzes, nach dem gefundene menschliche Überreste wieder beerdigt werden müssen. Dazu erklärten sich die Archäologen bereit, bestanden allerdings darauf, die Fundstücke vorher zu untersuchen. Letzten Monat wurde der Rechtsstreit durch einen Erlaß des Generalbundesanwalts entschieden: die Wissenschaftler müssen alle ausgegrabenen Knochen ohne Untersuchung zur sofortigen Wiederbeerdigung herausgeben. Nach Protesten wurde der rigorose Erlaß etwas abgemildert: alles, was über 5.000 Jahre ist, darf zuvor zumindest untersucht und dokumentiert werden.
Der Konflikt hat mehr als nur regionale Bedeutung. In Israel befinden sich Grabungsstätten, die zu den wichtigsten in der Welt zählen, nirgends ist der Übergang vom Neandertaler zum modernen Menschen, von Jägern und Sammlern zu seßhaften Gesellschaften, so gut nachweisbar. Für die betroffenen Forscher ist die neue Regelung, so eine Anthropologin der Universität Jerusalem, „gleichbedeutend mit Vandalismus“. Würde derlei ultraorthodoxer Knochen-Kult Schule machen, könnte historische Anthropologie nicht mehr stattfinden, archäologische Forschungen nach dem Ursprung der Menschheit müßten eingestellt werden. Für Sekten und religiöse Ultras mag dies keinen großen Verlust bedeuten – ihre Schöpfungsgeschichte ist ohnehin komplett und nicht weiter erklärungsbedürftig – der Rest der Menschheit aber hat einen Anspruch auf die Erforschung seiner Ursprünge.
Daß Anthropologen nicht so ignorant gegenüber lebenden Kulturen und Gebräuchen vorgehen, wie es die Inuit-Forscher in Washington spiegelbildlich vorführten, sollte selbstverständlich sein. Dies kann aber nicht bedeuten, daß die Bewohner des heutigen Düsseldorf einen Anspruch auf die Relikte des Neandertalers geltend machen könnten oder irgendeine alpenländische Religionsgemeinschaft ein Recht auf die Herausgabe der „Ötzi“-Mumie hätte. Die im Heiligen Land zur Debatte stehenden Gerippe sind weitaus älter als das Alte Testament.
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