: Konzerte, Klänge und die Kosten
■ Hörerbindung durch thematische Verklammerung: Die Reihe „Zeitklänge“ in Berlin / Ehrgeizigstes Projekt ist eine Kammeroper von Gösta Neuwirth
Achim Hartig ist Veranstalter. Er betreibt in der Hauptstadt eine Konzertreihe namens „Zeitklänge“. Heute abend findet eines der rund zehn jährlichen Konzerte statt. Sehen wir uns das doch einmal an.
K., der Mann von der Straße, hat Langeweile. Den Staub des Alltags abgeklopft, ist ihm heute nach erbaulicher Unterhaltung. Er faßt ein Konzert ins Auge, und zwar eines der rauheren Sorte: zeitgenössische Musik. K. verläßt gestylt das Haus, taucht in den Untergrund und löst ein Fahrticket, Kostenpunkt 3,70 Mark. Nach Erreichen des Zielbahnhofs Hausvogteiplatz wandelt er über den Gendarmenmarkt, grüßt Schiller mit ernstem Nicken und strebt dem prächtig illuminierten Schauspielhaus entgegen, Betriebskosten für Beleuchtung und Reinigung 1.500 Mark.
Livriertes Personal weist K. den Weg zur Kasse, wo er eine Karte zum Normaltarif von 20 Mark erwirbt, passiert die Eingangskontrolle, wendet sich zur Garderobe, wo für Hinterlegung von Mantel, Kopf und Kragen weitere 2,50 Mark abgezogen werden. Die Lohnkosten für Billeteuse, Kontrolleur und Garderobiere und weitere vier Leute Personal betragen übrigens nur 400 Mark. Voller Vorfreude schlendert K. durchs Foyer, entnimmt dem Warenspender eine Handvoll Thymian-Anti- Hustenbonbons – die sind umsonst, Werbegeschenke eines Rundfunksenders, sachdienlicherweise in knisterarmes Papier gehüllt. Sein Orientierungsbedürfnis befriedigt er durch den Kauf eines Programmheftes zu 2,50 Mark, das viel Werbung enthält. An diesem Heft wurde 20 Stunden gegrübelt, getippt und verbessert. Da geistige Arbeit zu Dumpingpreisen gehandelt wird, fallen die Kosten nicht ins Gewicht. Zwanzig Arbeitsstunden eines Handwerkermeisters wären nicht unter 1.600 Mark zu haben. Aber Gestaltung und Redaktion, Druck, Bindung, Auslieferung schlagen für 120 Exemplare mit 3.750 Mark zu Buche.
Unterdessen verdunkelt der Techniker den Saal. Licht und Bühne hat er während der Proben eingerichtet. Der Inspizient – es ist der Veranstalter höchstselbst – schickt die vier Musiker auf die Bühne. Sie haben geübt und beherrschen ihren Part bereits nach fünf Proben hinreichend bis trefflich. Der Probenaufwand für die vier Stücke des Abends – 70 Minuten Musik netto – liegt bei 80 Stunden, die mit einem Honorar von, sagen wir, 8.000 Mark vergolten werden. Anreise und Unterbringung der Gaststars schlagen mit circa 1.600 Mark zu Buche. Da es sich um ernste Musik handelt, spielen die Musiker aus Noten, macht 300 Mark Leihgebühren. Die GEMA wird für weitere 600 Mark an Lizenzgebühren danken.
Pause. Die Besucher sind ein wenig ermattet. K. wendet sich zielstrebig zur Sektbar und verleibt sich Waren im Gegenwert von 4,50 Mark ein. Zwei Stücke noch, dann ist das Konzert vorbei. K. wird vielleicht das Erlebte durch gepflegte Trinkerei noch weiter vertiefen oder aber nach Hause fahren, neuerliches Fahrticket zu 3,70 Mark. War das Konzert beeindruckend, folgt ein Eintrag ins Tagebuch, in jedem Fall aber am nächsten Morgen die taz – 1,80 Mark –, um nachzulesen, ob das Konzert was taugte oder nicht. Der Veranstalter räumt derweil auf, zahlt aus, tröstet sich und flucht auf die anderen, betrinkt sich dann würdevoll im Kreise der Seinen und stellt, bevor er als letzter das Licht löscht, die Telephonliste für den kommenden Vormittag zusammen.
Ziehen wir Bilanz: Der Besucher zahlt, inclusive taz, 38,70 Mark, davon 25 Mark an den Veranstalter. K. war einer von, sagen wir, hundert Zuhörern, das bringt also 2.500 Mark. Der Veranstalter hat da ganz andere Summen aufzubringen: Werbung, Einladungskarten, die Kosten für Kommunikation, Transport, Steuern und Lizenzen, Sozialabgaben, Kost, Miete und schließlich ein bescheidenes Honorar summieren sich auf durchschnittlich 28.000 Mark pro Konzert. Erwähnen wir noch, daß sich die Organisation eines Konzertes über ein Jahr erstreckt und grob gerechnet 360 Arbeitsstunden verschlingt.
1994 hat Achim Hartig die Organisation einer in die Wendezeit zurückreichenden Ostberliner Konzertreihe übernommen und zu den „Zeitklängen“ umgeformt. Damit verbunden war die Notwendigkeit eines Konzeptes, das sich von den zahlreichen anderen Veranstaltungsaktivitäten abhebt. Zum Profil der Reihe gehört ein hohes Niveau der Interpreten – keine Selbstverständlichkeit in der Interpretenwüste Berlin, die weder namhafte Solisten für neue Musik noch Ensembles mit Festivalerfahrung beherbergt.
Um nicht, wie so oft, Einzelkonzerte zu geben, die nur für sich stehen, nichts erklären und auch nicht weiterführen, legt H. großen Wert auf die thematische Verklammerung der Konzerte einer Spielzeit. Dahinter verbirgt sich nicht nur ein ernst genommener Bildungsauftrag, durch die Kontinuität soll vielmehr eine Hörerbindung erreicht werden. Gerade weil H. nicht nur auf das Neue-Musik- Publikum mit seinen inzestuösen Familienstrukturen, sondern auf Quereinsteiger aus anderen Sparten zielt, die eher allgemein kulturinteressiert als spezialisiert sind, setzt er auf interdisziplinäre Durchdringung. Die Tendenz gibt ihm recht, die Besucherzahlen steigen. Darauf zielt auch das Thema „Avantgarde zwischen Sprache und Musik – James Joyce“. Neben Vertonungen und Lesung von Joyceschen Texten findet sich manche Rarität, wie beispielsweise eine in Noten gesetzte irische Ballade aus der Feder des Autors. Heute abend wird nun das Ensemble Aventure aufspielen. Das Programm fügt Joyce mit Arno Schmidt zusammen, dessen „Lesbarmachung“ einiger Passagen aus „Finnegans Wake“ durch Verlesung hörbar gemacht werden sollen. Es schlägt dann den Bogen zu Hans-Joachim Hespos, dessen Spielanweisungen oft in eine naiv- manieristische Lautpoesie lappen und durch hochexpressives „Gestammel“ von Sprachlauten und Instrumentalklängen ausgedrückt, oder treffender gesagt: ausgequetscht werden. Hinzu gesellt sich eine unerwartete Kombination von Samuel Beckett und Philip Glass. Letzterer schrieb 1965 eine Bühnenmusik zum Drama „Play“ des ersteren, und man darf gespannt sein, wie sich der versiegende Reduktionismus des einen mit dem wuchernden Minimalismus des anderen vermählt.
Mit dem ehrgeizigsten Projekt seines Saisonprogramms – einer Kammeroper von Gösta Neuwirth, die Texte von Adolf Wölfli durch Sänger, Kammerorchester und Rockband ausdeutet – hat Achim H. momentan viel Trouble. Nicht nur bröckelten schlagartig mehrere Dutzend sicher versprochene Tausender weg und hinterließen eine schmerzhafte Lücke.
Auch die in Bonn beschlossenen Haushaltskürzungen schlagen durch. Da Personal nicht gestrichen werden kann, streicht man eben die Projekte, oder läßt sie bis zur Unkenntlichkeit abmagern. Um das Herzstück der Programmreihe und damit das thematische Profil nicht wegbrechen zu lassen, schlägt für H. also die Stunde des Krisenmanagements: Sponsoren finden, Gelder umverteilen, Programme kürzen – kurz: hinterhertelefonieren, wieder und wieder und wieder.
„Kunst ist schön, macht aber viel Arbeit“, sagte Karl Valentin. Wäre noch zu ergänzen: „Und kostet viel des schönen Geldes.“ Frank Hilberg
In der Reihe „Zeitklänge“ spielt heute abend das Ensemble Aventure um 19.30 Uhr im Konzerthaus Berlin, Kammermusiksaal
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