piwik no script img

In Feld und Flur

Rasenkraftsport und Tauziehen – archaische Sportarten, die vor allem in Süddeutschland populär sind  ■ Von Stefan Maiwald

In so manchen süddeutschen Orten geschehen im Frühjahr und Sommer allerlei seltsame Dinge. In Zennern, Böllen oder Kollmarsreute treffen sich Erwachsene – und dazu noch äußerst kräftige Exemplare – auf der Wiese, stellen sich in zwei Gruppen gegenüber auf, lehnen sich zurück, und auf ein Kommando hin brüllen und rutschen und zerren sie. Zwischen ihnen spannt sich ein Seil. In Neulußheim, Deggendorf oder Dissen fliegen auf Sportplätzen Steine und Gewichte durch die Luft. Zwei wahrhaft archaische Sportarten stehen dort auf dem Programm: Tauziehen und Rasenkraftsport.

Ein reines Freizeitvergnügen ist es nicht, was die Muskelmenschen mit viel Schweiß und Liebe unter dem blauen Himmel treiben. Was unsereins allenfalls von Dorffesten oder Jubiläumsveranstaltungen der Freiwilligen Feuerwehr kennt, ist für 7.800 unserer Mitbürgerinnen und -bürger ein echter Leistungssport. Rund 130 Vereine sind im „Deutschen Rasenkraftsport- und Tauziehverband“ (DRTV) organisiert. Deutsche Meisterschaften, Europameisterschaften und sogar Weltmeisterschaften finden regelmäßig statt.

Tauziehen – logisch. Aber Rasenkraftsport? „Steinstoßen, Hammerwerfen, Gewichtwerfen – ein Dreikampf“, erklärt Rainer Schalck, rühriger Schatzmeister des Verbandes. Aha. „Beim Steinstoßen ist das Sportgerät ein quaderförmiger Stein, der bei den Herren 15 kg wiegt. Hammerwerfen entspricht der leichtathletischen Disziplin, und beim Gewichtwerfen ist das Sportgerät ähnlich einem kurzen Wurfhammer, etwa 50 cm lang und je nach Altersklasse bis zu 15 kg schwer.“ Das Hammer- und Gewichtwerfen erfolgt aus dem Kugelstoßkreis, das Steinstoßen auf einer zwanzig Meter langen Anlaufbahn. Dabei ist das Werfen oder das Tragen des Steins mit zwei Armen verboten, und der Rücken darf nicht in die Stoßrichtung zeigen.

Natürlich gibt es auch fürs Tauziehen Regeln. Die Wettkampfordnung umfaßt beinahe 80 Seiten – von wegen primitive Kraftmeierei. Das wichtigste: Zwei Teams à acht Mann stehen sich gegenüber, das Seil muß mindestens 33,5 Meter lang sein und einen Umfang von 10 bis 12,5 cm haben. Ein Wettkampf besteht aus drei Durchgängen. Die Mannschaften versuchen den Gegner über eine Mittellinie mindestens vier Meter ins eigene Feld zu ziehen. Es siegt die Mannschaft, die zwei Durchgänge gewonnen hat. Ein Durchgang dauert oft länger als drei Minuten. Der längste je registrierte Durchgang, bei der WM 1988 in Malmö, dauerte gar 24 Minuten und 45 Sekunden; Puste gehört also in jedem Fall dazu.

Verboten sind das Sitzen auf einem Fuß, absichtliches Berühren des Bodens mit der Hand und Schlingen oder Knoten im Seil. Auch Handschuhe sind verboten, lediglich das Einreiben der Hände mit Harz ist erlaubt. Verschiedene Gewichtsklassen werden nach dem Gesamtgewicht der acht Teamkollegen eingeteilt.

Beide Sportarten können eine lange Geschichte aufweisen. Eine Disziplin des Rasenkraftsports, das Hammerwerfen, ist heute noch olympisch, allerdings unter dem Dach der Leichtathletik. Das Gewichtwerfen war immerhin bis 1920 olympische Disziplin, und das Steinstoßen, wohl eine der ältesten Sportarten überhaupt, wurde schon beim ersten Deutschen Turnfest 1860 in Coburg ins Wettkampfprogramm aufgenommen.

Das Tauziehen, das in den angelsächsischen und skandinavischen Ländern wesentlich populärer ist als in Deutschland, blieb bis 1920 im olympischen Programm, und bei der „vergessenen“ Zwischenolympiade 1906 in Athen holte die deutsche Mannschaft sogar eine Goldmedaille. Bei den letzten Weltmeisterschaften, die 1994 im schwedischen Uppsala stattfanden, verbuchte das deutsche Team lediglich im Schwergewicht (bis 720 kg) eine Bronzemedaille. Dominierend waren die Schweizer Wettkämpfer. Bei den Frauen waren es die Schwedinnen, die die Holländerinnen über das Gras zogen.

Wer sich selbst einmal im Rasenkraftsport versuchen möchte: Der deutsche Rekord im Steinstoßen liegt bei den Männern und einem 15-kg-Stein bei 11,78 Metern, bei den Frauen (5-kg-Stein) bei 14,91 Metern. Die Bundesligasaison im Tauziehen startet am 7. Mai. Das nächste Großereignis steht im September an: die Europameisterschaften im spanischen Badeort Getxo bei Bilbao.

Tauziehen und Rasenkraftsport sind keine Männerdomänen. Zumindest im Rasenkraftsport sind die Frauen in Deutschland stark vertreten. Sogar einen aktiven Jugendbereich gibt es – das kann nicht jede Randsportart von sich behaupten. Leider, so Rainer Schalck, wird die Jugendarbeit des DRTV vom Deutschen Leichtathletikverband (DLV) ausgenutzt, der Werferinnen und Werfer aus dem Rasenkraftsport abwirbt. „Der DLV hat Geld, wir nicht“, resümiert Schalck die Machtverhältnisse.

Warum Tauziehen und Rasenkraftsport fast nur in Süddeutschland gefragt sind, kann keiner so recht beantworten. Vielleicht gibt es dort die stärkeren Manns- und Weibsbilder – den Gegenbeweis bleiben die Norddeutschen jedenfalls schuldig. Vielleicht sind ja auch die Dörfer im Süden noch ein wenig intakter, und beide Diszplinen gehören halt zum Ortsbild dazu wie das alljährliche Feuerwehrfest.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen